BFH: Keine rückwirkende Korrektur von Rechnungen bei fehlendem Hinweis auf ein innergemeinschaftliches Dreiecksgeschäft
Umsatzsteuer
BFH, Urteil vom 17.07.2024, XI R 35/22 (XI R 14/20)
Verfahrensgang: FG Münster, 15 K 1219/17 U,AO vom 22.04.2020
Leitsatz:
Die nachträgliche Korrektur von Rechnungen entfaltet im Hinblick auf die Voraussetzungen des § 14a Abs. 7 UStG keine Rückwirkung (Anschluss an das EuGH-Urteil Luxury Trust Automobil vom 08.12.2022 - C-247/21, EU:C:2022:966).
Gründe:
I. Streitig ist, ob fehlerhaft behandelte innergemeinschaftliche Dreiecksgeschäfte mit Rückwirkung umsatzsteuerrechtlich korrigiert werden können.
In den Jahren 2008 bis 2013 (Streitjahre) betrieb der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) einen Großhandel mit landwirtschaftlichen Maschinen. Er besaß für die Republik Polen (Polen) das alleinige Vertriebsrecht für Maschinen der Hersteller "A" (Bundesrepublik Deutschland --Deutschland--), "B" (Königreich Belgien) und "C" (Neuseeland/Tschechische Republik).
Die Maschinen wurden vom Kläger bei den Herstellern bestellt und von dort direkt an die Kunden in verschiedenen Mitgliedstaaten, insbesondere Polen, geliefert. Die Versendung erfolgte entweder durch den Kläger oder den Hersteller, jeweils unter Verwendung der Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer (in Deutschland: Umsatzsteuer-Identifikationsnummer --USt-IdNr.--) ihres Ansässigkeitsstaates, wobei der Kläger seinen Kunden in keinem Fall bereits vor der Warenbewegung die Verfügungsmacht an den Maschinen übertrug. Auch die Endkunden verwendeten jeweils die Mehrwertsteuer-Identifikationsnummern ihres Ansässigkeitsstaates.
Für die Lieferungen aus anderen Mitgliedstaaten nach Polen erklärte der Kläger in seinen deutschen Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre auf der Eingangsseite umsatzsteuerpflichtige innergemeinschaftliche Erwerbe im Inland und machte zugleich den Vorsteuerabzug gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) geltend. Er erklärte die Weiterlieferungen in Polen als umsatzsteuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen von Deutschland nach Polen im Sinne von § 4 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. § 6a UStG. Sowohl die Zusammenfassenden Meldungen des Klägers für die Streitjahre als auch die Rechnungen des Klägers an seine Kunden enthielten zunächst keine Hinweise auf ein innergemeinschaftliches Dreiecksgeschäft. Der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) stimmte den Erklärungen zunächst zu.
Das Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung führte unter anderem betreffend Umsatzsteuer 2008 bis 2013 eine Außenprüfung beim Kläger durch. In Bezug auf die Lieferungen zwischen den im übrigen Gemeinschaftsgebiet ansässigen Herstellern, dem Kläger und den im übrigen Gemeinschaftsgebiet ansässigen Kunden kamen die Prüfer zu dem Ergebnis, dass innergemeinschaftliche Reihengeschäfte im Sinne des § 3 Abs. 6 Satz 5 UStG in der in den Streitjahren gültigen Fassung (nachfolgend: a.F.) vorliegen würden. Die Beförderung oder Versendung könne aber jeweils nur einer Lieferung zugeordnet werden. Dies seien gemäß § 3 Abs. 6 Satz 6 Halbsatz 1 UStG a.F. jeweils die Lieferungen der Hersteller an den Kläger. Der Ort der Lieferungen des Klägers an seine Kunden liege gemäß § 3 Abs. 7 Satz 2 Nr. 2 UStG jeweils im Abnehmerstaat (zumeist Polen), wo die Beförderung oder Versendung geendet habe. Dort hätte sich der Kläger jeweils für Zwecke der Mehrwertsteuer registrieren und seine Umsätze aus den Lieferungen an die Kunden erklären müssen. Der Kläger hätte dort zusätzlich einen innergemeinschaftlichen Erwerb versteuern müssen und zugleich den Vorsteuerabzug vornehmen dürfen. Zugleich habe der Kläger die Waren gemäß § 3d Satz 2 Halbsatz 1 UStG in Deutschland innergemeinschaftlich erworben.
Die Prüfer nahmen weiter an, von der Vereinfachungsregel des § 25b UStG (innergemeinschaftliches Dreiecksgeschäft) habe der Kläger keinen Gebrauch gemacht. Denn für die Anwendung hätte der Kläger unter anderem in der Rechnung an den letzten Abnehmer auf das Dreiecksgeschäft und die übergegangene Steuerschuldnerschaft hinweisen müssen (§ 25b Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 14a Abs. 7 UStG). Dies habe der Kläger jedoch nicht getan. Er habe in den Rechnungen die Steuerfreiheit einer innergemeinschaftlichen Lieferung vermerkt und entsprechende Zusammenfassende Meldungen abgegeben.
Da die Versteuerung der zweiten Lieferung im jeweiligen Zielstaat bisher unterblieben sei, gelte der steuerpflichtige innergemeinschaftliche Erwerb des Klägers nach § 3d Satz 2 Halbsatz 2 UStG in den Streitjahren als in Deutschland bewirkt, da der Kläger im Einzelfall nicht nachgewiesen habe, dass der Erwerb im jeweiligen Zielstaat besteuert worden ist oder nach § 25b Abs. 3 UStG als besteuert gilt. Dem Kläger stehe auch kein Recht auf Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG zu.
Der Kläger erteilte daraufhin im Dezember 2015 berichtigte Rechnungen im Sinne des § 25b UStG und übermittelte am 14.06.2016 berichtigte Zusammenfassende Meldungen an das Bundeszentralamt für Steuern. Für Juni 2016 meldete der Kläger in seiner Umsatzsteuervoranmeldung einen entsprechenden Umsatzsteuervergütungsanspruch an.
Noch vor Ergehen von Änderungsbescheiden beantragte der Kläger mit Schreiben vom 18.04.2016 beim FA, für die Streitjahre keinen Fall des § 3d Satz 2 UStG anzunehmen, hilfsweise, die Rechnungskorrekturen nachträglich als rückwirkend zum Zeitpunkt der ursprünglichen Rechnungsstellung anzuerkennen, weiter hilfsweise eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 der Abgabenordnung (AO).
Diese Anträge lehnte das FA mit Schreiben vom 27.05.2016 ab. In Umsetzung der Feststellungen der Prüfer erließ es ebenfalls am 27.05.2016 Umsatzsteuer-Änderungsbescheide für die Streitjahre, in denen es unter anderem den Vorsteuerabzug aus den erklärten innergemeinschaftlichen Erwerben nicht berücksichtigte. Zudem minderte das FA auch die erklärten steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferungen um die in Deutschland nicht steuerbaren Umsätze. Zugleich setzte das FA für die Streitjahre Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer fest.
Die dagegen eingelegten Einsprüche wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 21.03.2017 als unbegründet zurück. Eine abweichende Steuer- und Zinsfestsetzung aus Billigkeitsgründen lehnte das FA weiterhin ab, da keine Unbilligkeit gegeben sei.
Das Finanzgericht (FG) Münster gab der Klage statt (Urteil vom 22.04.2020 - 15 K 1219/17 U,AO, Entscheidungen der Finanzgerichte 2020, 1097). Es vertrat die Ansicht, dass die innergemeinschaftlichen Erwerbe gemäß § 3d Satz 2 Halbsatz 2 UStG bereits in den Streitjahren entfallen seien, weil der Kläger mit Rückwirkung die Rechnungen an die Kunden berichtigt und eine korrigierte Zusammenfassende Meldung abgegeben habe, so dass die Erwerbe bereits zu diesem Zeitpunkt nach § 25b Abs. 3 UStG als besteuert zu gelten hätten. Über die Zinsbescheide entschied das FG nicht, da sich die Pflicht des FA zur Änderung insoweit unmittelbar aus § 233a Abs. 5 Satz 1 AO ergebe. Auch über die Hilfsanträge (Billigkeitsentscheidung wegen Umsatzsteuer und Zinsen) entschied das FG nicht, da die Klage im Hauptantrag Erfolg hatte.
Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Es trägt vor, dass die Voraussetzungen des § 25b UStG im Streitfall nicht vorlägen. Eine Rückwirkung der im Jahr 2016 erfolgten Rechnungsberichtigungen auf die Streitjahre komme nicht in Betracht. Auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in den Rechtssachen Senatex (Urteil vom 15.09.2016 - C-518/14, EU:C:2016:691) und Firma Hans Bühler (Urteil vom 19.04.2018 - C-580/16, EU:C:2018:261) sei dies nicht möglich. Diese Entscheidungen beträfen die Rückwirkung von formellen Voraussetzungen, während es bei den hier streitigen Voraussetzungen um materielle Voraussetzungen gehe. Den Angaben in der Rechnung müsse eine materielle Bedeutung zukommen, weil bei Fehlen dieser Angaben die Besteuerung gefährdet sei. Werde der letzte Abnehmer nicht darauf hingewiesen, dass er Steuerschuldner sei, werde die Besteuerung durch ihn gerade nicht sichergestellt, sondern das Risiko der Nichtbesteuerung hingenommen.
Das FA beantragt,
die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet abzuweisen.
Er trägt vor, dass ein Risiko der Nichtbesteuerung im Streitfall nicht gegeben sei, da innergemeinschaftliche Lieferungen erklärt worden seien, so dass die Leistungsempfänger innergemeinschaftliche Erwerbe im Bestimmungsland erklärt hätten.
De facto gehe es im Streitfall nur darum, ob Zinsen zur Umsatzsteuer entstehen. Die Höhe der Zinsen, die bei einer fehlenden Rückwirkung entstünden, widerspreche dem Grundsatz der Neutralität und habe quasi Sanktionscharakter. Für Letzteres seien nach dem EuGH-Urteil Senatex vom 15.09.2016 - C-518/14, EU:C:2016:691, Rz 41 eigens geschaffene Sanktionsregelungen für die Nichterfüllung der Pflichten erforderlich.
Der Senat hat mit Beschluss vom 19.10.2021 das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des EuGH in dem Verfahren C-247/21 angeordnet. Nach Ergehen des EuGH-Urteils Luxury Trust Automobil vom 08.12.2022 - C-247/21, EU:C:2022:966 wurde das Verfahren wieder aufgenommen.
Der Kläger trägt im Hinblick auf die genannte EuGH-Entscheidung vor, dass sich die Sachverhalte der beiden Verfahren unterschieden. Im Verfahren Luxury Trust Automobil vom 08.12.2022 - C-247/21, EU:C:2022:966 sei es um einen Betrugsfall gegangen, weshalb der EuGH die Vereinfachungsregelung des § 25b UStG verneint habe. Vorliegend gehe es nicht um einen Betrugsfall. Ob die polnischen Erwerber einen innergemeinschaftlichen Erwerb oder einen Erwerb im Rahmen eines innergemeinschaftlichen Dreiecksgeschäfts versteuert hätten, sei letztendlich unerheblich. Im Ergebnis hätten die Erwerber die innergemeinschaftlichen Erwerbe in Polen versteuert. Der deutsche Fiskus sei nicht geschädigt worden.
Der Streitfall unterscheide sich auch deshalb vom Verfahren Luxury Trust Automobil vom 08.12.2022 - C-247/21, EU:C:2022:966, weil im dortigen Fall die Beteiligten von vornherein ein Dreiecksgeschäft beabsichtigt hätten, während dies vom Kläger im Streitfall erst auf Veranlassung der Prüfer angenommen worden sei und die Rechnungen geändert worden seien. Durch den unterlassenen Hinweis auf die Umkehr der Steuerschuldnerschaft im EuGH-Fall trete die Gefahr auf, dass eine Besteuerung im Bestimmungsland gänzlich unterbleibe. Im Streitfall sei jedoch jede einzelne Lieferung im Bestimmungsland erklärt worden. Sowohl bei der Umkehr der Steuerschuldnerschaft als auch bei den vom Kläger erklärten und gemeldeten innergemeinschaftlichen Lieferungen finde die Besteuerung im Bestimmungsland statt, so dass zu keinem Zeitpunkt eine Steuergefährdung bestanden habe, da alle Vorgänge im richtigen Land erfasst worden seien. Erwerber der vom Kläger gelieferten landwirtschaftlichen Maschinen könnten nur Unternehmer sein. Daher sei es bei den fraglichen Rechnungen ausgeschlossen, dass jemals eine Umsatzbesteuerung im Inland erfolgen könne. Das FA behaupte einen Zinsanspruch für einen Steueranspruch, der aus dem vorliegenden Sachverhalt nie hätte entstehen können.
II. Die Revision ist begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben. Die Klage wegen Umsatzsteuer 2008 bis 2013 ist als unbegründet abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Sache wird im Übrigen (wegen Zinsen zur Umsatzsteuer 2008 bis 2013, wegen abweichender Festsetzung von Umsatzsteuer 2008 bis 2013 aus Billigkeitsgründen und abweichender Zinsfestsetzung aus Billigkeitsgründen) zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).
Der Ort der innergemeinschaftlichen Erwerbe des Klägers liegt gemäß § 3d Satz 1 UStG im Bestimmungsland (s. dazu unter 1.). Der Kläger hat aber daneben (jeweils) einen innergemeinschaftlichen Erwerb nach § 3d Satz 2 Halbsatz 1 UStG in Deutschland bewirkt (s. dazu unter 2.), der in den Streitjahren weder nachweislich im Bestimmungsland besteuert wurde noch als besteuert gilt (s. dazu unter 3.). Die Sache ist bezüglich der Hilfsanträge nicht spruchreif (s. dazu unter 4.).
1. Sowohl der Ort der Lieferungen des Klägers an seine Kunden als auch der Ort des innergemeinschaftlichen Erwerbs des Klägers liegt im Bestimmungsland (in der Regel Polen); denn es liegt ein innergemeinschaftliches Reihengeschäft vor, bei dem die Warenbewegung der ersten Lieferung an den Kläger zuzurechnen ist. Entsprechend hat der Kläger die landwirtschaftlichen Maschinen dort innergemeinschaftlich erworben. Die Weiterlieferung des Klägers an seine mitgliedstaatlichen Abnehmer ist eine Lieferung im Bestimmungsland und unterliegt dort der Besteuerung (hier: zumeist in Polen).
a) Schließen mehrere Unternehmer über denselben Gegenstand Umsatzgeschäfte ab und gelangt der Gegenstand bei der Beförderung oder Versendung unmittelbar vom ersten Unternehmer an den letzten Abnehmer, ist die Beförderung oder Versendung des Gegenstands gemäß § 3 Abs. 6 Satz 5 UStG a.F. nur einer der Lieferungen zuzuordnen.
aa) Wird der Gegenstand der Lieferung durch den Lieferer, den Abnehmer oder einen vom Lieferer oder vom Abnehmer beauftragten Dritten befördert oder versendet, gilt die Lieferung nach § 3 Abs. 6 Satz 1 UStG dort als ausgeführt, wo die Beförderung oder Versendung an den Abnehmer oder in dessen Auftrag an einen Dritten beginnt (vgl. auch Art. 32 Unterabs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem --MwStSystRL--). Lieferungen, die der Beförderungs- oder Versendungslieferung folgen, gelten dort als ausgeführt, wo die Beförderung oder Versendung des Gegenstands endet (§ 3 Abs. 7 Satz 2 Nr. 2 UStG). Der innergemeinschaftliche Erwerb durch den Abnehmer wird in dem Gebiet des Mitgliedstaates bewirkt, in dem sich der Gegenstand am Ende der Beförderung oder Versendung befindet (§ 3d Satz 1 UStG).
bb) Wird der Gegenstand der Lieferung durch einen Abnehmer befördert oder versendet, der zugleich Lieferer ist, ist gemäß § 3 Abs. 6 Satz 6 UStG a.F. die Beförderung oder Versendung der Lieferung an ihn zuzuordnen, es sei denn, er weist nach, dass er den Gegenstand als Lieferer befördert oder versendet hat (s. im Übrigen zur Rechtsentwicklung und zu den Tatbestandsvoraussetzungen des innergemeinschaftlichen Reihengeschäfts im Einzelnen auch Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 28.05.2013 - XI R 11/09, BFHE 242, 84, BStBl II 2023, 537; vom 11.03.2020 - XI R 18/18, BFHE 268, 364, BStBl II 2023, 525; BFH-Beschluss vom 22.11.2023 - XI R 1/20, BStBl II 2024, 530).
b) Im Streitfall sind die Warenbewegungen der ersten Lieferung an den Kläger zuzuordnen. Die Maschinen wurden jeweils durch den Hersteller oder den Kläger versendet. Dass der Kläger die Gegenstände als Lieferer befördert oder versendet hat, hat das FG nicht festgestellt und ist auch aus den Akten nicht ersichtlich. Wie das FG festgestellt hat, hat der Kläger seinen Kunden in keinem Fall bereits vor der Warenbewegung die Verfügungsmacht an den Maschinen übertragen (vgl. dazu BFH-Urteil vom 22.11.2023 - XI R 1/20, BStBl II 2024, 530, Rz 45, m.w.N.).
Da die Warenbewegung der ersten Lieferung der Hersteller an den Kläger zuzuordnen ist, liegt der Ort der zweiten Lieferung des Klägers an seine Abnehmer nach § 3 Abs. 7 Satz 2 Nr. 2 UStG im Bestimmungsland. Der Ort der innergemeinschaftlichen Erwerbe des Klägers liegt nach § 3d Satz 1 UStG ebenfalls dort. Ein Besteuerungsrecht Deutschlands ergibt sich, worauf der Kläger insoweit zu Recht hinweist, daraus nicht. Vielmehr hätte der Kläger in den Bestimmungsländern (zumeist Polen) innergemeinschaftliche Erwerbe (Art. 40 MwStSystRL) erklären müssen, zugleich diese Umsatzsteuer als Vorsteuer abziehen können (Art. 168 Buchst. c MwStSystRL) sowie seine Ausgangsumsätze an die Erwerber im Bestimmungsland erklären und versteuern müssen.
2. Der innergemeinschaftliche Erwerb ist aber daneben nach § 3d Satz 2 Halbsatz 1 UStG auch in Deutschland bewirkt.
a) Verwendet der Erwerber gegenüber dem Lieferer eine ihm von einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sich der Gegenstand am Ende der Beförderung oder Versendung befindet, erteilte USt-IdNr., gilt der Erwerb gemäß § 3d Satz 2 Halbsatz 1 UStG im Gebiet dieses Mitgliedstaates als bewirkt.
b) Im Streitfall liegen die Voraussetzungen des § 3d Satz 2 Halbsatz 1 UStG vor. Der Kläger hat als Erwerber gegenüber den Herstellern aus anderen Mitgliedstaaten seine deutsche USt-IdNr. verwendet.
3. Das Besteuerungsrecht Deutschlands ist weder nach § 3d Satz 2 Halbsatz 2 UStG weggefallen noch kommt die Besteuerungsfiktion des § 25b Abs. 3 UStG zur Anwendung. Die Voraussetzungen für ein innergemeinschaftliches Dreiecksgeschäft lagen in den Streitjahren noch nicht vor.
a) Die Ortsregelung des § 3d Satz 2 Halbsatz 1 UStG gilt so lange, bis der Erwerber nachweist, dass der Erwerb durch den in § 3d Satz 1 UStG bezeichneten Mitgliedstaat besteuert worden ist oder nach den Bestimmungen über innergemeinschaftliche Dreiecksgeschäfte gemäß § 25b Abs. 3 UStG als besteuert gilt, sofern der erste Abnehmer (für 2008 und 2009 nach § 18a Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 UStG, für 2010 bis 2013 nach § 18a Abs. 7 Satz 1 Nr. 4 UStG) seiner entsprechenden Erklärungspflicht nachgekommen ist.
b) Diese Regelung steht im Einklang mit dem Unionsrecht (Art. 41 Abs. 1 und Art. 42 MwStSystRL, vormals Art. 28b Teil A der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage; vgl. BFH-Urteil vom 08.09.2010 - XI R 40/08, BFHE 231, 343, BStBl II 2011, 661, Rz 18). Sie dient nicht rechtssystematischen, sondern rein praktischen Überlegungen. Sie soll zum einen sicherstellen, dass der fragliche innergemeinschaftliche Erwerb besteuert wird (entweder im Inland oder in einem anderen Mitgliedstaat), und zum anderen verhindern, dass dieser Erwerb doppelt besteuert wird (vgl. EuGH-Urteile X und fiscale eenheid Facet BV-Facet Trading BV vom 22.04.2010 - C-536/08 und C-539/08, EU:C:2010:217, Rz 35; Dyrektor Izby Skarbowej w W. (Falsche Einstufung einer Kette von Umsätzen) vom 07.07.2022 - C-696/20, EU:C:2022:528, Rz 41; Heuermann in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer, § 3d Rz 10, 11).
c) Eine tatsächliche Besteuerung im Bestimmungsland (insbesondere Polen) hat der Kläger nicht nachgewiesen. Weder aus den tatsächlichen Feststellungen des FG noch aus den Akten ergibt sich, dass der Kläger die innergemeinschaftlichen Erwerbe in den Abnehmer-Mitgliedstaaten (insbesondere in Polen) besteuert hätte. Sowohl der Nachweis einer Registrierung in den Bestimmungsländern als auch der Nachweis einer Besteuerung der innergemeinschaftlichen Erwerbe fehlt. Gleiches gilt für die Besteuerung aufgrund der berichtigten Rechnungen, so dass es auf den Umstand, dass diese nach § 17 Abs. 2 Nr. 4 UStG keine Rückwirkung hätten, nicht ankommt.
d) Die Voraussetzungen der Besteuerungsfiktion des § 25b Abs. 3 UStG lagen in den Streitjahren nicht vor.
aa) Nach § 25b Abs. 1 Satz 1 UStG ist ein innergemeinschaftliches Dreiecksgeschäft gegeben, wenn drei Unternehmer über denselben Gegenstand Umsatzgeschäfte abschließen und dieser Gegenstand unmittelbar vom ersten Lieferer an den letzten Abnehmer gelangt (§ 25b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG), die Unternehmer in jeweils verschiedenen Mitgliedstaaten für Zwecke der Umsatzsteuer erfasst sind (§ 25b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG), der Gegenstand der Lieferungen aus dem Gebiet eines Mitgliedstaates in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaates gelangt (§ 25b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG) und der Gegenstand der Lieferungen durch den ersten Lieferer oder den ersten Abnehmer befördert oder versendet wird (§ 25b Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UStG).
bb) Für den Übergang der Steuerschuldnerschaft auf den letzten Abnehmer setzt § 25b Abs. 2 UStG voraus, dass der Lieferung ein innergemeinschaftlicher Erwerb vorausgegangen ist (§ 25b Abs. 2 Nr. 1 UStG), der erste Abnehmer in dem Mitgliedstaat, in dem die Beförderung oder Versendung endet, nicht ansässig ist und eine USt-IdNr. verwendet, die nicht von dem Mitgliedstaat des ersten Lieferers oder letzten Abnehmers stammt (§ 25b Abs. 2 Nr. 2 UStG), der erste Abnehmer dem letzten Abnehmer eine Rechnung im Sinne des § 14a Abs. 7 UStG erteilt, in der die Steuer nicht gesondert ausgewiesen ist (§ 25b Abs. 2 Nr. 3 UStG), und der letzte Abnehmer eine USt-IdNr. des Mitgliedstaates verwendet, in dem die Beförderung oder Versendung endet (§ 25b Abs. 2 Nr. 4 UStG).
cc) Liegen die Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 und 2 UStG vor, so gilt nach § 25b Abs. 3 UStG der innergemeinschaftliche Erwerb des ersten Abnehmers als besteuert.
dd) Die Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 und 2 UStG lagen in den Streitjahren indes nicht vor.
aaa) Dies gilt insbesondere für die im Streitfall umstrittene Voraussetzung, dass der erste Abnehmer dem letzten Abnehmer eine Rechnung im Sinne des § 14a Abs. 7 UStG erteilt haben muss, in der auf das Vorliegen eines innergemeinschaftlichen Dreiecksgeschäfts und die Steuerschuldnerschaft des letzten Abnehmers hinzuweisen ist. Dieser Hinweis fehlte in den ursprünglichen Rechnungen.
bbb) Soweit die berichtigten Rechnungen aus dem Jahr 2016 diese Voraussetzungen erfüllen, kommt der Berichtigung dieser Rechnungen keine Rückwirkung zu.
(1) Nach § 31 Abs. 5 Satz 1 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung kann eine Rechnung berichtigt werden, wenn sie nicht alle Angaben nach § 14 Abs. 4 oder § 14a UStG enthält oder Angaben in der Rechnung unzutreffend sind.
(2) Die Berichtigung einer Rechnung kann zwar unter bestimmten Bedingungen Rückwirkung entfalten (vgl. EuGH-Urteile Senatex vom 15.09.2016 - C-518/14, EU:C:2016:691; Vadan vom 21.11.2018 - C-664/16, EU:C:2018:933; BFH-Urteile vom 20.10.2016 - V R 26/15, BFHE 255, 348, BStBl II 2020, 593, Leitsätze 1 bis 3; vom 22.01.2020 - XI R 10/17, BFHE 268, 331, BStBl II 2020, 601, Rz 17 f.). Dies gilt auch für Rechnungen, die den Anforderungen nach § 14a UStG nicht genügen (vgl. BFH-Urteil vom 20.10.2016 - V R 26/15, BFHE 255, 348, BStBl II 2020, 593). Dies beruht auf dem Grundprinzip der Neutralität der Mehrwertsteuer, wonach der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Voraussetzungen nicht genügt hat; daraus folgt, dass die Steuerverwaltung, wenn sie über die Angaben verfügt, die für die Feststellung des Vorliegens der materiellen Voraussetzungen erforderlich sind, hinsichtlich des Rechts des Steuerpflichtigen auf Abzug dieser Steuer keine zusätzlichen Voraussetzungen aufstellen darf, die die Ausübung dieses Rechts vereiteln können (vgl. EuGH-Urteile Barlis 06 - Investimentos Imobiliários e Turísticos vom 15.09.2016 - C-516/14, EU:C:2016:690; Raiffeisen Leasing vom 29.09.2022 - C-235/21, EU:C:2022:739, Rz 38 ff.).
(3) Auch hat der EuGH zu innergemeinschaftlichen Dreiecksgeschäften klargestellt, dass nach dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer die Nichterfüllung der formellen Anforderungen des Art. 42 Buchst. b MwStSystRL durch einen Steuerpflichtigen (Pflicht zur Abgabe einer Zusammenfassenden Meldung) nicht dazu führt, dass die Anwendung dieses Art. 42 in Frage gestellt wird, wenn der Erwerber eine ordnungsgemäß ausgefüllte Zusammenfassende Meldung über seinen Umsatz nachträglich abgibt (vgl. EuGH-Urteil Firma Hans Bühler vom 19.04.2018 - C-580/16, EU:C:2018:261).
(4) Jedoch hat der EuGH mit dem Urteil Luxury Trust Automobil vom 08.12.2022 - C-247/21, EU:C:2022:966 entschieden, dass der Enderwerber im Rahmen eines Dreiecksgeschäfts nicht wirksam als Schuldner der Mehrwertsteuer bestimmt worden ist, wenn die vom Zwischenerwerber ausgestellte Rechnung nicht die Angabe "Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers" enthält und das Weglassen der nach dieser Bestimmung erforderlichen Angabe "Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers" auf einer Rechnung nicht später durch Ergänzung eines Hinweises darauf berichtigt werden kann, dass diese Rechnung ein innergemeinschaftliches Dreiecksgeschäft betrifft und dass die Steuerschuld auf den Empfänger der Lieferung übergeht. Er führt hierzu in der Entscheidung Folgendes aus:
Rz 59 "Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof zwar anerkannt hat, dass das Grundprinzip der Neutralität der Mehrwertsteuer verlangt, dass der Vorsteuerabzug oder die Erstattung der Vorsteuer gewährt wird, auch wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat, doch gilt dies nur unter der Voraussetzung, dass die materiellen Anforderungen im Übrigen erfüllt wurden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. September 2007, Collée, C-146/05, EU:C:2007:549, Rn. 31, vom 19. April 2018, Firma Hans Bühler, C-580/16, EU:C:2018:261, Rn. 50 und 51, sowie vom 21. Oktober 2021, Wilo Salmson France, C-80/20, EU:C:2021:870, Rn. 76)."
Rz 60 "Es geht nämlich darum, die fraglichen Umsätze unter Berücksichtigung ihrer objektiven Merkmale zu besteuern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2007, Collée, C 146/05, EU:C:2007:549, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung)."
Rz 61 "Folglich kann von einer Berichtigung der Rechnung nicht die Rede sein, wenn eine Voraussetzung für die Anwendung der für Dreiecksgeschäfte geltenden Ausnahmeregelung wie die nach Art. 226 Nr. 11a der Mehrwertsteuerrichtlinie erforderliche Angabe fehlt. Wie die Generalanwältin in den Nrn. 57 und 61 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ist das nachträgliche Erfüllen einer für die Steuerschuldverlagerung auf den Empfänger einer Lieferung notwendigen Tatbestandsvoraussetzung keine Korrektur. Es handelt sich um die erstmalige Ausstellung der erforderlichen Rechnung, die keine Rückwirkung entfalten kann."
(5) Dies gilt nicht nur --wie der Kläger meint-- in Fällen, in denen ein Umsatzsteuerbetrug gegeben ist, sondern generell für die Fälle des Dreiecksgeschäfts; denn der Nachweis, dass der Empfänger der Lieferung gemäß Art. 197 MwStSystRL als Steuerschuldner bestimmt worden ist, ist nach Auffassung des EuGH eine materielle Voraussetzung für die Besteuerungsfiktion (EuGH-Urteil Luxury Trust Automobil vom 08.12.2022 - C-247/21, EU:C:2022:966, Rz 49, 56). Außerdem kann man den vom EuGH in Bezug genommenen Ausführungen der Generalanwältin Kokott in Rz 57 und 61 der Schlussanträge vom 14.07.2022 - C-247/21, EU:C:2022:588 entnehmen, dass das nachträgliche Erfüllen einer notwendigen Tatbestandsvoraussetzung keine Korrektur, sondern das erstmalige Ausstellen der vorausgesetzten Rechnung ist und erst mit einer entsprechenden Rechnung, die dem Empfänger zugeht, die Rechtsfolgen der Verwaltungsvereinfachungsregelung ex nunc ausgelöst werden.
e) Soweit der Kläger vorträgt, dass davon auszugehen ist, dass die Abnehmer im Bestimmungsland innergemeinschaftliche Erwerbe angemeldet haben und damit eine Besteuerung im Bestimmungsland gegeben ist, so dass § 3d Satz 2 UStG seine oben beschriebene Schutzfunktion verloren habe, sehen die Art. 41 Abs. 1 und Art. 42 MwStSystRL keine Ausnahmeregelungen vor. Eine Abweichung vom klaren und unmissverständlichen Wortlaut der Richtlinie setzt ein Eingreifen des Unionsgesetzgebers voraus (vgl. EuGH-Urteil Mensing II vom 13.07.2023 - C-180/22, EU:C:2023:565, Rz 40 und 35; vgl. auch BFH-Urteil vom 22.11.2023 - XI R 22/23 (XI R 2/20), BFH/NV 2024, 612, Rz 26, zu § 25a Abs. 3 Satz 3 UStG).
4. Die Sache ist nur teilweise spruchreif.
a) Das Verfahren wegen Umsatzsteuer 2008 bis 2013 ist spruchreif. Die angefochtenen Änderungsbescheide sind rechtmäßig, weil die in den Streitjahren zu erfassenden steuerpflichtigen innergemeinschaftlichen Erwerbe nicht durch einen Vorsteuerabzug neutralisiert werden können (vgl. EuGH-Urteil X und fiscale eenheid Facet BV-Facet Trading BV vom 22.04.2010 - C-536/08 und C-539/08, EU:C:2010:217; BFH-Urteile vom 01.09.2010 - V R 39/08, BFHE 231, 308, BStBl II 2011, 658; vom 08.09.2010 - XI R 40/08, BFHE 231, 343, BStBl II 2011, 661), da nach Auffassung des EuGH in dem Land, dessen USt-IdNr. verwendet wurde, keine Umsätze vorliegen, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht und die allgemeine Vorsteuerabzugsregelung nicht die besondere Regelung der § 3d Satz 2, § 17 Abs. 2 Nr. 4 UStG ersetzen kann, die auf einem Mechanismus der Verringerung der Bemessungsgrundlage beruht, mit dem die Doppelbesteuerung korrigiert werden kann. Die Bemessungsgrundlage hat das FA im Einspruchsverfahren auf die zutreffende Höhe vermindert.
b) Soweit sich der Kläger auch gegen die Festsetzung von Zinsen zur Umsatzsteuer 2008 bis 2013 wendet sowie hilfsweise eine abweichende Festsetzung von Umsatzsteuer 2008 bis 2013 und Zinsen zur Umsatzsteuer 2008 bis 2013 aus Billigkeitsgründen fordert, hat das FG --aus seiner Sicht folgerichtig-- darüber nicht entschieden. Die Sache geht daher insoweit an das FG zurück.
5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO. Das FG hat mit Rücksicht auf den Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung auch über die Kosten des durch dieses Urteil rechtskräftig abgeschlossenen Teils des Verfahrens zu entscheiden (vgl. BFH-Urteile vom 02.07.2021 - XI R 29/18, BFHE 274, 8, BStBl II 2022, 205, Rz 41; vom 09.03.2023 - IV R 11/20, BFHE 279, 531, BStBl II 2023, 830, Rz 47).