Anm. zu LAG Baden-Württemberg: Regelmäßige Beschäftigtenanzahl im Zeitpunkt der Stilllegungsentscheidung und Schwellenwert des § 111 Satz 1 BetrVG

Ein auf Grund von Eigenkündigungen der Arbeitnehmer vor dem Hintergrund eines über das Vermögen der Arbeitgeberin bereits eröffneten Insolvenzverfahrens erfolgender kontinuierlicher Personalschwund, der dazu führt, dass die Anzahl der i.d.R. beschäftigten wahlberechtigten Arbeitnehmer i.S.d. § 111 Satz 1 BetrVG von zunächst deutlich über 20 auf nicht mehr als 20 und damit unter den Schwellenwert des § 111 Satz 1 BetrVG herabsinkt, kann nicht ohne Weiteres als Vorstufe einer später getroffenen Stilllegungsentscheidung angesehen werden, so dass in einem solchen Fall die Betriebsstilllegung grundsätzlich nicht sozialplanpflichtig ist. Bei einem derartig gelagerten Sachverhalt ist ferner jedenfalls dann eine offensichtliche Unzuständigkeit einer Einigungsstelle i.S.d. § 100 Abs. 1 ArbGG gegeben, wenn unstreitig im Zeitpunkt der Stilllegungsentscheidung der Schwellenwert des § 111 Satz 1 BetrVG nicht erreicht war und zwischen den Betriebsparteien lediglich streitig ist, ob nicht ausnahmsweise von einer höheren Beschäftigtenanzahl auszugehen ist. Dies hat das LAG Baden-Württemberg (LAG) mit Beschluss vom 7.7.2023 (9 TaBV 4/23, nicht veröffentlicht) entschieden und den Antrag des Betriebsrats auf Einsetzung einer Einigungsstelle zum Regelungsgegenstand „Sozialplan wegen Betriebsschließung“ abgewiesen (Entscheidungszusammenfassung mit Praxishinweisen der Kanzlei Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB).

Sachverhalt:

Die Parteien streiten über die Einsetzung einer Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand „Sozialplan wegen Betriebsschließung“.

Der Antragssteller ist Betriebsrat bei der Gemeinschuldnerin, einem Unternehmen, über dessen Vermögen am 1.4.2022 das Insolvenzverfahren eröffnet und die Antragsgegnerin zur Insolvenzverwalterin bestellt worden ist. In den Jahren vor der Insolvenzeröffnung waren bei der Gemeinschuldnerin regelmäßig stets mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt. Nach Bekanntwerden von wirtschaftlichen Schwierigkeiten Ende 2021 reduzierte sich die Anzahl der bei der Gemeinschuldnerin beschäftigten wahlberechtigten Arbeitnehmer seit Anfang 2022 stetig. Im Januar 2022 waren noch 23 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt, zum Zeitpunkt der von der Insolvenzverwalterin am 21.12.2022 getroffenen Stilllegungsentscheidung lediglich noch 14 Mitarbeiter. Die Reduzierung der Mitarbeiterzahl erfolgte auf Grund von Eigenkündigungen oder durch auf Veranlassung der Arbeitnehmer geschlossenen Aufhebungsvertrag. Lediglich ein Arbeitsverhältnis endete in diesem Zeitraum auf Grund einer außerordentlichen fristlosen arbeitgeberseitigen Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen.

Am 21.12.2022 fasste die Antragsgegnerin einen Stilllegungsbeschluss, infolgedessen sämtlichen bei der Gemeinschuldnerin zu diesem Zeitpunkt noch beschäftigten Arbeitnehmern gekündigt wurde. Die Stilllegungsentscheidung war dadurch veranlasst worden, dass die Muttergesellschaft der Gemeinschuldnerin vertragswidrig ihren Zahlungspflichten gegenüber der Antragsgegnerin im Dezember 2022 nicht mehr nachgekommen war und die Antragsgegnerin über keine Einnahmen mehr verfügte.

Das Arbeitsgericht Freiburg (4 BV 2/23) hatte – anders als sodann das letztinstanzlich zuständige LAG – eine offensichtliche Unzuständigkeit der Einigungsstelle verneint und dem Antrag des Betriebsrats auf Einsetzung einer Einigungsstelle zum Regelungsgegenstand „Sozialplan wegen Betriebsschließung“ mit Beschluss vom 19.5.2023 stattgegeben. Die Beschwerde der Antragsgegnerin zum LAG war erfolgreich.

Entscheidungsgründe:

Das LAG ist der Auffassung, dass im Hinblick darauf, dass zum Zeitpunkt der Stilllegungsentscheidung der Personalbestand bei der Antragsgegnerin auf 14 Arbeitnehmer abgesunken war, die Voraussetzungen für die Annahme einer Betriebsänderung nach § 111 BetrVG mangels Erreichen des Schwellenwertes von i.d.R. mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern nicht vorlagen. 

Eine offensichtliche Unzuständigkeit der Einigungsstelle, weil ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates bezüglich der Aufstellung eines Sozialplans nach §§ 111 i.V.m. 112 Abs. 4 BetrVG nicht besteht, liege vor, wenn bei fachkundiger Beurteilung durch das Gericht sofort erkennbar ist, dass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates in der fraglichen Angelegenheit unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt in Frage kommt.

Das Arbeitsgericht habe im Wesentlichen darauf abgestellt, dass sich der kontinuierliche Personalabbau bei der Antragsgegnerin seit Beginn des Jahres 2022 rückwirkend als Vorstufe der Betriebsstilllegung darstelle, so dass die ursprüngliche Beschäftigtenzahl maßgeblich bleibe und auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hierzu Bezug genommen. Diese zwar grundsätzlich zutreffende Annahme sah das LAG jedoch im vorliegenden Fall aus folgenden Gründen nicht erfüllt, so dass maßgeblich für die Frage, ob eine Betriebsänderung vorliegt, die Zahl der Beschäftigten zum Zeitpunkt der Stilllegungsentscheidung am 21.12.2022 sei:

Eine unternehmerische Entscheidung habe die Antragsgegnerin im Zusammenhang mit der Insolvenzeröffnung am 1.4.2022 überhaupt erstmals am 21.12.2022 getroffen, als sie sich entschlossen habe, den Betrieb stillzulegen. Das Arbeitsgericht weise zwar zu Recht daraufhin, dass andere personalwirtschaftliche Entscheidungen von der Antragsgegnerin nicht getroffen worden seien. Insbesondere habe die Antragsgegnerin keine irgendwie geartete unternehmerische Entscheidung getroffen im Zusammenhang mit dem kontinuierlichen Schwund an Mitarbeitern auf Grund von Eigenkündigungen. Ebenso wenig habe die Antragsgegnerin eine personalwirtschaftliche Entscheidung getroffen, als sie sich im Oktober 2022, als der Schwellenwert des § 111 Satz 1 BetrVG bereits unterschritten war, entschieden habe, den Betrieb fortzuführen. Die Entscheidung, einen bestehenden Betrieb fortzuführen, sei als solche keine zu berücksichtigende unternehmerische Entscheidung, weil sie sich in keiner Weise auf den Bestand oder die Organisation des Betriebes auswirke. Der Sache nach sei eine solche Fortführungsentscheidung lediglich die Entscheidung, nichts zu tun, insbesondere den Betrieb nicht stillzulegen. Daher sei die für die Frage der Einsetzung einer Einigungsstelle bzw. Sozialplanpflichtigkeit einzig relevante unternehmerische Entscheidung die am 21.12.2022 getroffene, den Betrieb stillzulegen. Diese unternehmerische Entscheidung beruhe allerdings vorliegend nicht auf dem vorhergehenden Personalschwund durch Eigenkündigungen. Bis zum 21.12.2022 habe die Antragsgegnerin schlichtweg nichts gemacht, sondern den Personalschwund hingenommen und den Betrieb weitergeführt. Erst nachdem die Muttergesellschaft der Gemeinschuldnerin vertragswidrig ihren Zahlungspflichten gegenüber der Antragsgegnerin im Dezember 2022 nicht mehr nachgekommen sei und die Antragsgegnerin über keine Einnahmen mehr verfügte, habe diese beschlossen, den Betrieb stillzulegen.

Angesichts dieses Geschehensablaufes könne der vorherige kontinuierliche Personalschwund bei der Antragsgegnerin nicht als Vorstufe der späteren Betriebsstilllegung angesehen werden. Auslöser für die Betriebsstilllegung sei vielmehr ein singuläres Ereignis gewesen, nämlich die Verletzung der Zahlungspflichten durch die Muttergesellschaft der Gemeinschuldnerin, die in keinem Zusammenhang damit stehe, dass es zuvor zu einem Verlust von Mitarbeitern durch Eigenkündigung gekommen war. Allein das Hinnehmen von Eigenkündigungen durch die Antragsgegnerin habe keinen inhaltlichen Bezug zu der späteren Stilllegungsentscheidung. Nur dann, wenn bei der Antragsgegnerin von vornherein die Absicht bestanden hätte, den Betrieb nicht dauerhaft fortzuführen, sondern gewissermaßen personell auszubluten, wäre eine inhaltliche Verknüpfung zwischen der Hinnahme des Weggangs der Arbeitnehmer und der späteren Stilllegung gegeben, die es rechtfertigen würde, den im Laufe des Jahres 2022 eingetretenen Personalschwund als Vorstufe der Betriebsänderung anzusehen. Eine solche von vornherein feststehende verdeckte Stilllegungsabsicht der Antragsgegnerin könne nicht angenommen werden, weil dafür bereits die Zustimmung der Gläubigerversammlung nach § 157 Abs. 1 InsO erforderlich wäre.

Diese Erwägungen genügen nach Ansicht des LAG auch dem Maßstab der Offensichtlichkeit nach § 100 Abs. 1 ArbGG. Zwar hätten sowohl das Beschwerdegericht als auch insbesondere das Arbeitsgericht zur Klärung dieser Frage erheblichen argumentativen Aufwand betrieben. Das allein begründe allerdings noch nicht die Annahme, die Zuständigkeit der Einigungsstelle fehle nicht offensichtlich.

Ausgangspunkt für die Offensichtlichkeitsprüfung im Zusammenhang mit der Unternehmensgröße nach § 111 Satz 1 BetrVG sei die Zahl der Beschäftigten im Zeitpunkt der Stilllegungsentscheidung. Das seien vorliegend unstreitig lediglich 14 gewesen. Alle anderen Erwägungen, insbesondere die des Arbeitsgerichtes, hätten die Frage betroffen, ob, obwohl es nur 14 Beschäftigte zum Zeitpunkt der Stilllegung waren, nicht ausnahmsweise doch von einer höheren Beschäftigtenzahl ausgegangen werden könne. Wenn aber allein die Frage, ob nicht ausnahmsweise von mehr Beschäftigten auszugehen ist, Gegenstand umfassender Überlegungen ist, spreche das nicht gegen eine offensichtliche Unzuständigkeit. Jedenfalls dann, wenn lediglich das Abweichen von der Beschäftigtenzahl im Zeitpunkt der Stilllegung Gegenstand der Offensichtlichkeitsprüfung sei und verneint werde, bleibe es bei der offensichtlichen Unzuständigkeit.

Hinweis für die Praxis:

Die Entscheidung des LAG überzeugt. Nach der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (s. nur Urteil vom 16.11.2004, 1 AZR 642/03) ist im Grundsatz von der regelmäßigen Beschäftigtenanzahl im Zeitpunkt der Stilllegungsentscheidung auszugehen. Nur wenn im Einzelfall ausnahmsweise (erhebliche) Umstände gegeben sind, die die vorherige Entwicklung als Teil der Stilllegungsentscheidung erscheinen lassen, kann sich der Beurteilungszeitpunkt nach vorne verschieben. Weil es in derartigen Fallgestaltungen auf Nuancen im Sachverhalt wesentlich ankommt, ist Arbeitgebern anzuraten, spätestens eine anstehende Stilllegungsentscheidung sorgfältig vorzubereiten und eine etwaige Sozialplanpflichtigkeit abzuklären.

Auch die zutreffende Auffassung des LAG, dass in derartigen Fällen jedenfalls bei unstreitigem Sachverhalt ein etwaiger Argumentationsaufwand hinsichtlich eines ggf. zu verschiebenden Beurteilungszeitpunktes der Annahme einer offensichtlichen Unzuständigkeit der Einigungsstelle nicht entgegensteht, ist schon aus (prozess)ökonomischen Gründen zu begrüßen. Denn andernfalls würde die Entscheidung dieser Rechtsfrage zunächst auf die Einigungsstelle verlagert, um dann ggf. anschließend doch wieder vor dem Arbeitsgericht im Rahmen der Überprüfung eines Spruches der Einigungsstelle über dieselbe Frage zu streiten – mit dem Effekt, dass die Durchführung der Einigungsstelle auf Kosten des Arbeitgebers vollständig überflüssig wäre.

Autor: Rechtsanwalt Max Fahr, Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB, Freiburg

Quelle: LAG Baden-Württemberg, Beschluss vom7.7.2023, 9 TaBV 4/23; Vorinstanz: Arbeitsgericht Freiburg, Beschluss vom 19.5.2023, 4 BV 2/23 (beide nicht veröffentlicht).