Anm. zu ArbG Freiburg: Kündigung schwerbehinderter Arbeitnehmer – auch in den ersten sechs Monaten erheblich erschwert oder gar faktisch unmöglich?
SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
Das ArbG Freiburg hat mit Urteil v. 4.6.2024 (2 Ca 51/24) zur der Frage Stellung genommen, ob die Kündigung schwerbehinderter Arbeitnehmer – auch in den ersten sechs Monaten erheblich erschwert oder gar faktisch unmöglich ist und stellt sich damit – ebenso wie bereits das ArbG Köln – gegen die Rechtsprechung des BAG (Entscheidungszusammenfassung mit Praxishinweisen der Kanzlei Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB).
Sachverhalt:
Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer innerhalb der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses ausgesprochenen Kündigung.
Der 53-jährige Kläger ist schwerbehindert mit einem GdB von 50. Er ist in Kenntnis der Schwerbehinderung von der beklagten Stadt in Teilzeit mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 19,5 Stunden am 16.10.2023 eingestellt worden. Ob der Beklagten die der Schwerbehinderung zu Grunde liegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Seelische Störung, Nierenfunktionseinschränkung, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bluthochdruck sowie Schlafapnoe-Syndrom) bekannt waren, ist streitig. Die Beklagte führte mit dem Kläger am 10.11.2023, 8.1.2024, 10.1.2024und 16.1.2024 Mitarbeitergespräche.
Nach Anhörung des Personalrats gem. § 87 Abs. 1 Nr. 9 LPVG BW und der Schwerbehindertenvertretung gem. §178 Abs. 2 SGB IX erklärte die Beklagte mit Schreiben vom 6.2.2024, dem Kläger zugegangen am 13.2.2024, die Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum29.2.2024. Mit Blick auf die Regelung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX hatte die Beklagte vor Ausspruch der Kündigung nicht die Zustimmung des Integrationsamts gem. § 168 SGB IX eingeholt. Sie informierte das Integrationsamt am 14.2.2024 über die Kündigung, § 173 Abs. 4 SGB IX.
Vor Ausspruch der Kündigung hatte die Beklagte ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX wieder eingeleitet noch abschließend durchgeführt.
Der Kläger ist der Auffassung, die Kündigung verstoße gegen das Diskriminierungsverbot des § 164 Abs. 2 SGB IX und sei deshalb rechtsunwirksam.
Entscheidungsgründe:
Das ArbG Freiburg hat im Ergebnis zu Gunsten des Klägers entschieden.
Zwar habe die Kündigung nicht der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes bedurft (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX), auch sei das Kündigungsschutzgesetz auf das Arbeitsverhältnis der Parteien innerhalb der ersten sechs Monate (noch) nicht anwendbar gewesen. Die Kündigung verstoße jedoch nach § 134 BGB i.V.m. § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX gegen ein gesetzliches Verbot, nämlich dasjenige der Benachteiligung von Schwerbehinderten.
Die Beklagte sei nämlich ihren Verpflichtungen zur Durchführung eines Präventionsverfahren nach § 167 SGB IX nicht nachgekommen. Entgegen der Rechtsprechung des BAG (BAG v. 21.4.2016, 8 AZR 402/14, Rz. 27 ff) bestehe diese Pflicht bereits innerhalb der ersten sechs Monate des Bestandes eines Arbeitsverhältnisses. Auf Grund dieses Verstoßes lägen Indizien vor, die eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung vermuten lassen. Nach § 22 AGG hätte daher die Beklagte darlegen und beweisen müssen, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat. Dies sei der Beklagten vorliegend nicht gelungen.
Es könne auf Grund des vorliegenden Sachverhalts auch nicht davon ausgegangen werden, dass das Präventionsverfahren ergebnislos verlaufen wäre. Es sei nämlich nicht auszuschließen, dass die aufgetretenen Schwierigkeiten beispielsweise in einem anderen Arbeitsumfeld oder bei konkreterer Unterstützung und Anleitung des Klägers hätten vermieden werden können.
Hinweis für die Praxis:
Die Durchführung eines Präventionsverfahren nimmt erhebliche Zeit in Anspruch. In der aktuellen praktischen Tätigkeit des Unterzeichners lagen zwischen der Einleitung eines Präventionsverfahren und dem ersten Gesprächs- bzw. Erörterungstermin etwas mehr als vier Monate. Konkret wurde in diesem Termin eine modifizierte Beschäftigung für eine Erprobungsphase von drei Monaten vereinbart. Angesichts dieser zeitlichen Abläufe bleibt von einer »kündigungsschutzfreien Erprobungsphase«, deren Ermöglichung sowohl die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG als auch die Regelung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX dienen sollen, im Ergebnis nichts übrig, wenn man entgegen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die Pflicht zur Einleitung und Durchführung eines Präventionsverfahren bereits innerhalb der ersten sechs Beschäftigungsmonate bejaht.
Das ArbG hat die ohnehin statthafte Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache ausdrücklich zugelassen. Es bleibt abzuwarten, ob und mit welchem Ergebnis der Rechtsstreit durch die Instanzen geht. Für die betriebliche Praxis ist die streitige Frage von erheblicher Bedeutung.
Autor: Rechtsanwalt Dr. Christoph Fingerle, Friedrich Graf von Westphalen und Partner mbB, Freiburg
Quelle: ArbG Freiburg, Urteil vom 4.6.2024 (2 Ca 51/24)
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