Anm. zu BAG: Erschütterung des Beweiswertes einer im Nicht-EU-Ausland erstellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Entgeltfortzahlungsgesetz

Das BAG hat mit Urteil vom 14.1.2025 (5 AZR 284/24) entschieden, dass der Beweiswert einer im Nicht-EU-Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sein kann, wenn nach der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung des zu würdigenden Einzelfalls Umstände vorliegen, die zwar für sich betrachtet unverfänglich sein mögen, in der Gesamtschau aber ernsthafte Zweifel am Beweiswert der Bescheinigung begründen. Insoweit gelten die gleichen Grundsätze wie bei einer in Deutschland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Entscheidungszusammenfassung mit Praxishinweisen der Kanzlei Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB)

Sachverhalt:

Der Kläger ist seit 2002 als Lagerarbeiter bei der Beklagten mit einem durchschnittlichen Bruttomonatsgehalt von zuletzt 3.612,94 Euro beschäftigt. In den Jahren 2017, 2019 und 2020 legte er der Beklagten im direkten zeitlichen Zusammenhang mit seinem Urlaub Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor. Vom 22. August bis zum 9. September 2022 hatte der Kläger Urlaub, den er in Tunesien verbrachte. Mit E-Mail vom 7. September 2022 teilte er der Beklagten mit, er sei bis zum 30. September 2022 krankgeschrieben. Beigefügt war ein Attest vom 7. September 2022 eines tunesischen Arztes, der in französischer Sprache bescheinigte, dass er den Kläger untersucht habe, dieser an „schweren Ischialbeschwerden“ im engen Lendenwirbelsäulenkanal leide, der Kläger 24 Tage strenge häusliche Ruhe bis zum 30. Sep-tember 2022 benötige und er sich während dieser Zeit nicht bewegen oder reisen dürfe.

Einen Tag nach dem Arztbesuch buchte der Kläger am 8. September 2022 ein Fährticket für den 29. September 2022 und reiste an diesem Tag mit seinem PKW zunächst mit der Fähre von Tunis nach Genua und dann weiter nach Deutschland zurück. Danach legte er der Beklagten eine Erstbescheinigung eines deutschen Arztes vom 4. Oktober 2022 vor, in der Arbeitsunfähigkeit bis zum 8. Oktober 2022 bescheinigt wurde. Nachdem die Beklagte dem Kläger mitgeteilt hatte, dass es sich ihrer Auffassung nach bei dem Attest vom 7. September 2022 nicht um eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung handele, legte der Kläger eine er-läuternde Bescheinigung des tunesischen Arztes vom 17. Oktober 2022 vor, in welcher der Arzt bescheinigte, den Kläger am 7. September 2022 untersucht zu haben. Weiter heißt es: „Er hatte eine beidseitige Lumboischialgie, die eine Ruhepause mit Arbeitsunfähigkeit und Reiseverbot für 24 Tage vom 07/09/2022 bis zum 30/09/2022 erforderlich machte.“ Die Beklagte lehnte die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ab und kürzte die Vergütung für September 2022 um 1.583,02 Euro netto.

Mit seiner Klage hat der Kläger zuletzt Entgeltfortzahlung für September 2022 in dieser Höhe verlangt. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das LAG hat das Urteil abgeändert und die Beklagte zur Zahlung verurteilt. Die Revision der Beklagten hatte vor dem Fünften Senat dahingehend Erfolg, dass die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen wurde.

Entscheidungsgründe:

Nach Auffassung des BAG hat zwar das LAG im Ausgangspunkt zutreffend erkannt, dass einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die in einem Land außerhalb der Europäischen Union ausgestellt wurde, grundsätzlich der gleiche Beweiswert wie einer in Deutschland ausgestellten Bescheinigung zukommt, wenn sie erkennen lässt, dass der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden hat. Das Berufungsgericht habe aber bei der Würdigung der von der Beklagten zur Begründung ihrer Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit vorgetragenen tatsächlichen Umstände nur jeden einzelnen Aspekt isoliert betrachtet und die rechtlich gebotene Gesamtwürdigung unterlassen. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass der tunesische Arzt dem Kläger für 24 Tage Arbeitsunfähigkeit bescheinigte, ohne eine Wiedervorstellung anzuordnen. Weiter buchte der Kläger bereits einen Tag nach der attestierten Notwendigkeit häuslicher Ruhe und des Verbots, sich bis zum 30. September 2022 zu bewegen und zu reisen, ein Fährticket für den 29. September 2022 und trat an diesem Tag die lange Rückreise nach Deutschland an. Zudem hätte der Kläger bereits in den Jahren 2017 bis 2020 dreimal unmittelbar nach seinem Urlaub Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt. Diese Gegebenheiten mögen - wie das LAG angenommen hat - für sich betrachtet unverfänglich sein. In einer Gesamtschau begründeten sie indes ernsthafte Zweifel am Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Das habe zur Folge, dass nunmehr der Kläger die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 3 Abs. 1 EFZG trage. Da das LAG - aus seiner Sicht konsequent - hierzu keine Feststellungen getroffen habe, war die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückzuverweisen.

Hinweis für die Praxis:

Die Entscheidung des BAG überrascht nicht, sondern setzt konsequent die aktuelle Linie zur Erschütterung des Beweiswertes von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen fort (vgl. hierzu beispielsweise zuletzt BAG, Urteil vom18.9.2024, 5 AZR 29/24).

Arbeitgebern ist daher zu raten, nicht automatisch – vorschnell – Entgeltfortzahlung zu leisten, sondern im Einzelfall zu prüfen, ob Anhaltspunkte vorliegen, die in ihrer Gesamtschau am tatsächlichen Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit zweifeln lassen. Entgeltfortzahlung sollte dann zunächst bis zu einer – ggf. auch gerichtlichen – Klärung zurückbehalten oder allenfalls unter Vorbehalt geleistet werden.

Zu beachten ist dabei, dass die Erschütterung des Beweiswertes einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung lediglich dazu führt, dass der Arbeitnehmer die volle Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit trägt. Dazu muss zwar im Arbeitsgerichtsprozess substantiiert vorgetragen und Beweis angeboten werden; unmöglich ist die Erfüllung dieser Darlegungs- und Beweislast aber nicht. Es ist daher je nach konkretem Einzelfall durchaus möglich, dass am Ende dennoch Entgeltfortzahlung zu leisten ist.

Autor: Rechtsanwalt Max Maiorano-Fahr, Friedrich Graf von Westphalen, Freiburg

Quelle: Pressemitteilung des BAG Nr. 1/25 vom 15.1.2025

Vorinstanz: LAG München, Urteil vom 16.5.2024 (9 Sa 538/23)