Anm. zu BAG: Europarechtskonformität der Überlassungshöchstdauer bei Betriebsübergang auf Entleiherseite

Arbeitnehmerüberlassungsgesetz

Das BAG hat mit Beschluss v. 1.10.2024 (9 AZR 264/23 (A)) ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet, um zu klären, wie die in § 1 Abs. 1b Satz 1 AÜG geregelte Überlassungshöchstdauer unionsrechtskonform zu berechnen ist, wenn auf Entleiherseite ein Betriebsübergang stattgefunden hat (Entscheidungszusammenfassung mit Praxishinweisen der Kanzlei Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB).

Sachverhalt:

Die Beklagte gehört einer Unternehmensgruppe an, die u. a. Sanitärarmaturen herstellt. Als Unternehmen für Logistik unterhält die Beklagte am Ort der Produktionsstätte einen Betrieb, in dem die Produkte verpackt, gelagert und für den Transport vorbereitet werden. Die vormals von dem Produktionsunternehmen als Betriebsteil selbst geführte Logistik ist zum 1.7.2018 auf die Beklagte übergegangen.

Der Kläger war in der Logistik durchgängig vom 16.6.2017 bis zum 6.4.2022 als Leiharbeitnehmer mit der Kommissionierung von Produkten betraut. Bis zu dem Betriebsteilübergang auf die Beklagte am 1.7.2018 war Entleiherin das Produktionsunternehmen. Die Beklagte ist ebenso wie das Produktionsunternehmen Mitglied des Verbands der Metall- und Elektroindustrie NRW e.V.

§ 1 Abs. 1b Satz 1 AÜG bestimmt, dass der Verleiher denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinanderfolgende Monate „demselben Entleiher“ überlassen darf, wobei durch oder aufgrund Tarifvertrags der Einsatzbranche gemäß § 1 Abs. 1b AÜG eine vom Gesetz abweichende Überlassungshöchstdauer festgelegt werden kann.

Der Kläger hat geltend gemacht, zwischen den Parteien sei zum 16.12.2018 wegen Überschreitens der gesetzlichen Überlassungshöchstdauer gemäß § 10 Abs. 1 AÜG ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen. Das Produktionsunternehmen als Betriebsveräußerer und die Beklagte als Betriebserwerberin seien i.S.d. Gesetzes als derselbe Entleiher anzusehen.

Die Beklagte vertritt die gegenteilige Auffassung. Im Fall eines Übergangs des Einsatzbetriebs auf einen anderen Inhaber beginne die Überlassungshöchstdauer neu zu laufen. Dies gelte auch dann, wenn der Leiharbeitnehmer nach dem Übergang des Betriebs unverändert auf demselben Arbeitsplatz eingesetzt werde. Die Beklagte beruft sich außerdem darauf, dass die gesetzlich zulässige Überlassungshöchstdauer aufgrund Tarifvertrags durch Betriebsvereinbarungen auf zuletzt 48 Monate verlängert worden sei.

Das AG hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das LAG das Urt. des AG abgeändert und u. a. festgestellt, dass zwischen den Parteien seit dem 16.6.2021 ein Arbeitsverhältnis besteht. Gegen dieses Urt. haben der Kläger und die Beklagte Rev. eingelegt.

Entscheidungsgründe:

Das BAG hat das Verfahren ausgesetzt und den EuGH nach Art. 267 AEUV zur Klärung von Fragen zur Auslegung der RL 2008/104/EG v. 19.11.2008, Abl.EU Nr. L 327 v. 5.12.2008 ersucht. Das BAG hält es für klärungsbedürftig, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen bei der Berechnung der Überlassungsdauer im Fall eines Betriebsübergangs Veräußerer und Erwerber als ein „entleihendes Unternehmen“ i.S.v. Art. 3 Abs. 1 Buchst. d der RL anzusehen sind. Davon hänge es ab, ob das Arbeitsverhältnis mit der Beklagten 18 Monate nach der Überlassung des Klägers zum 16.12.2018 oder erst 18 Monate nach dem Betriebsteilübergang zum 1.1.2020 zustande gekommen ist.

Auf die abweichend vom Gesetz nach dem Tarifvertrag Leih-/Zeitarbeit für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens zulässige Höchstüberlassungsdauer von 48 Monaten könne sich die Beklagte  nicht berufen, weil sie keinen Hilfs- oder Nebenbetrieb unterhalte, der dem Geltungsbereich dieses Tarifvertrags unterliegt. Die dort anfallenden Logistiktätigkeiten seien nicht Teil des Fertigungsprozesses.

Hinweis für die Praxis:

Ein Parallelverfahren – 9 AZR 263/23 – hat das BAG bis zur Entscheidung des EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt. Und auch darüber hinaus ist die Frage in der Praxis von großer Bedeutung. Ein näherer Blick in die Vorlagefragen des BAG zeigt, dass das BAG unterschiedliche Ergebnisse für Konzernkonstellationen in Betracht zieht. Denn es möchte zusammengefasst konkret Folgendes vom EuGH wissen (Hervorhebungen durch den Unterzeichner):

1. Sind bei der Berechnung einer nach nationalem Recht festgelegten Überlassungshöchstdauer im Fall eines Betriebsübergangs Veräußerer und Erwerber stets als ein „entleihendes Unternehmen“ anzusehen?

2. Wenn nein: Sind bei der Berechnung einer nach nationalem Recht festgelegten Überlassungshöchstdauer im Fall eines Betriebsübergangs Veräußerer und Erwerber als ein „entleihendes Unternehmen“ anzusehen, wenn sie demselben Konzern angehören und die Überlassung desselben Leiharbeitnehmers ununterbrochen auf demselben Arbeitsplatz erfolgt?

3. Wenn die ersten beiden Fragen verneint werden: Ist der Übergang eines entleihenden Betriebs im Rahmen der Kontrolle, ob bei aufeinanderfolgenden Überlassungen desselben Leiharbeitnehmers die Dauer noch als „vorübergehend“ betrachtet werden kann (Art. 5 Abs. 5 der RL 2008/104/EG v. 19.11.2008, Abl.EU Nr. L 327 v. 5.12.2008) zu berücksichtigen? Wenn dies bejaht wird: In welcher Weise?

Für die Praxis kann bis zur abschließenden Klärung dieser Fragen Entleihern nur empfohlen werden, vorsorglich bei Betriebsübergängen die Zeiten einer Entleihung beim Betriebsveräußerer zu berücksichtigen, wenn sie die Fiktion eines Arbeitsverhältnisses mit den betreffenden Leiharbeitnehmern nach §§ 9 Abs. 1 Nr. 1b, 10 AÜG vermeiden möchten.

Autor: Rechtsanwalt Max Maiorano-Fahr, Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB, Freiburg

Quelle: Pressemitteilung Nr. 25/24 des BAG v. 1.10.2024