Anm. zu BAG: Massenentlassungsanzeige, Unwirksamkeit von Kündigungen – die unendliche Geschichte?

Kündigungsschutzgesetz

Welche Rechtsfolgen eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige nach deutschem Recht hat, ist bedauerlicherweise immer noch nicht klar.

Der Sechste Senat des BAG hat mit Beschluss vom 23.5.2024 (6 AZR 152/22) einen Rechtsstreit, in dem eine zu Unrecht unterbliebene Massenentlassungsanzeige entscheidungserheblich ist, bis zur Entscheidung des EuGH in einem Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt; wir hatten darüber berichtet. Der EuGH hatte daraufhin mit Urteil vom 13.7.2023 (C‑134/22) entschieden, dass Art. 2 Abs. 3 Unterabsatz 2 der RL98/59 (Massenentlassungsrichtlinie – MERL), der in § 17 Abs. 3 KSchG in nationales Recht umgesetzt wurde, keinen Individualschutz für Arbeitnehmer gewährt; auch darüber hatten wir berichtet.

In Ergänzung u.a. dieser Vorlagen hat der Sechste Senat mit Beschl. v. 23.5.2024 (6 AZR 152/22 (A)) den EuGH um die Auslegung des Unionsrechts ua. dazu ersucht, ob der Zweck der Massenentlassungsanzeige erfüllt ist, wenn die Agentur für Arbeit eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige nicht beanstandet und sich damit als ausreichend informiert betrachtet (Entscheidungszusammenfassung mit Praxishinweisen der Kanzlei Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB).

Sachverhalt:

Der Kläger war bei einem Großhandels- und Wartungsunternehmen tätig, das bis September 2020 25 Arbeitnehmer beschäftigte. Ein Betriebsrat war nicht gebildet. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 1. Dezember 2020 legte der zum Insolvenzverwalter bestellte Beklagte den Betrieb still und kündigte innerhalb von 30 Tagen mindestens 10 Arbeitnehmern, darunter dem Kläger, ohne zuvor eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG erstattet zu haben. Er hat die Auffassung vertreten, einer entsprechenden Anzeige habe es nicht bedurft. Das Tatbestandsmerkmal „i.d.R.“ stelle auf den Zeitpunkt der Entlassung und damit auf einen Stichtag ab. Die Rechtsprechung des BAG zur Ermittlung der personellen Betriebsstärke sei unionsrechtswidrig. Zum maßgeblichen Stichtag seien bei der Schuldnerin auf Grund von Aufhebungsverträgen und Eigenkündigungen weniger als 21 Arbeitnehmer beschäftigt gewesen. Das LAG hat die Kündigung auf Grund der fehlenden Massenentlassungsanzeige für unwirksam gehalten und der Kündigungsschutzklage stattgegeben.

Der Sechste Senat des BAG hatte nach der zitierten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs durch Beschluss vom 14. Dezember 2023 – 6 AZR 157/22 (B) – nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG bei dem Zweiten Senat des BAG angefragt, ob dieser an seiner Rechtsauffassung festhält, dass eine im Rahmen einer Massenentlassung erklärte Kündigung nichtig ist, wenn im Zeitpunkt ihres Zugangs keine oder eine fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1 und Abs. 3 KSchG vorliegt (vgl. Pressemitteilung Nr. 46/23).

Der Zweite Senat hat mit Beschluss vom 1. Februar 2024 – 2 AS 22/23 (A) – das Anfrageverfahren ausgesetzt und den EuGH um die Beantwortung von erforderlichen Fragen zur Auslegung der den §§ 17 ff. KSchG zugrundeliegenden Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung von Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen ersucht, dies mit folgenden Vorlagefragen:

  1. Ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) dahin auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist?

Sofern die erste Frage bejaht wird:

  1. Setzt das Ablaufen der Entlassungssperre nicht nur eine Massenentlassungsanzeige voraus, sondern muss diese den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL genügen?
  2. Kann der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen hat, eine solche mit der Folge nachholen, dass nach Ablaufen der Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können?

Sofern die erste und die zweite Frage bejaht werden:

  1. Ist es mit Art. 6 MERL vereinbar, wenn das nationale Recht es der zuständigen Behörde überlässt, für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend festzustellen, wann die Entlassungssperre im konkreten Fall abläuft, oder muss dem Arbeitnehmer zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Feststellung eröffnet sein?

Der Zweite Senat des BAG hat damit das Anfrageverfahren nach § 45 Abs. 3 ArbGG bis zur Entscheidung des EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt, dies ersichtlich deswegen, weil seine Entscheidung über das Festhalten bzw. die Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung von der Auslegung der unionsrechtlichen Massenentlassungsrichtlinie abhängt, und diese Auslegung nur vom EuGH verbindlich vorgenommen werden kann.

In Ergänzung dieser Vorlage hat der Sechste Senat mit Beschluss vom 23.5.2024 den EuGH um die Auslegung des Unionsrechts ersucht, dies mit folgenden Vorlagefragen:

  1. Ist der Zweck der Massenentlassungsanzeige erfüllt und somit eine Sanktion entbehrlich, wenn die nationale Arbeitsagentur eine – objektiv fehlerhafte – Massenentlassungsanzeige nicht beanstandet und sich damit als ausreichend informiert betrachtet, um ihren Aufgaben innerhalb der Fristen des Art. 4 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) nachkommen zu können?

Gilt dies jedenfalls dann, wenn die Erreichung des Zwecks von Art. 3 MERL durch eine nationale arbeitsförderungsrechtliche Vorschrift sichergestellt ist und/oder die nationale Arbeitsagentur eine Pflicht zur Amtsermittlung hat?

  1. Sofern die erste Frage verneint wird: Kann der Zweck von Art. 3 MERL noch erfüllt werden, wenn eine fehlerhafte oder gänzlich fehlende Massenentlassungsanzeige nach Zugang der Kündigung korrigiert bzw. ergänzt oder nachgeholt werden kann?
  2. Wenn bei einer fehlerhaften oder fehlenden Massenentlassungsanzeige die Entlassungssperre nach Art. 4 Abs. 1 MERL die Sanktion für Fehler bei der Anzeige sein sollte, welcher Anwendungsbereich verbleibt dann insoweit noch für Art. 6 MERL?

Entscheidungsgründe:

Das in § 17 Abs. 1 KSchG für die Ermittlung der erforderlichen personellen Betriebsstärke maßgebliche Tatbestandsmerkmal „i.d.R.“ enthält weder eine Stichtagsregelung noch verlangt es eine Durchschnittsbetrachtung. Es stellt vielmehr auf die Anzahl der beschäftigten Arbeitnehmer ab, die für den gewöhnlichen Ablauf des betreffenden Betriebs kennzeichnend ist. Hierzu bedarf es eines Rückblicks auf den bisherigen Personalbestand und gegebenenfalls – sofern keine Betriebsstilllegung erfolgt – einer Einschätzung der zukünftigen Entwicklung. Zeiten eines außergewöhnlich hohen oder niedrigen Geschäftsgangs sind nicht zu berücksichtigen. Das ist durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bereits geklärt. Hat ein Arbeitgeber die Betriebsgröße falsch beurteilt und deshalb keine Massenentlassungsanzeige erstattet, ist jedoch derzeit unklar, ob dies – wie vom BAG in ständiger Rechtsprechung seit 2012 angenommen – weiterhin zur Unwirksamkeit der Kündigung führt. Das vom BAG entwickelte Sanktionssystem steht möglicherweise nicht im Einklang mit der Systematik des Massenentlassungsschutzes, wie er durch die Massenentlassungsrichtlinie (MERL) vermittelt wird, und könnte darum unverhältnismäßig sein.

Hinweis für die Praxis:

Wie bereits in unserem ersten Bericht zu diesem Thema angemerkt, wird hier die Problematik offenkundig, wenn EU-Richtlinien vom deutschen Gesetzgeber nur teilweise, nämlich bezüglich der sich daraus ergebenden Verpflichtungen umgesetzt werden; Rechtsfolgen für den Fall des Verstoßes jedoch nicht besonders normiert werden.

Jetzt tritt der Umstand hinzu, dass auch in der Systematik des deutschen Arbeitsgerichtsgesetzes eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung nur dann in Betracht kommt, wenn über die Auslegung der zu Grunde liegenden Unionsrichtlinie vom Europäischen Gerichtshof verbindlich entschieden ist.

Somit können bis zu einer Sachentscheidung gut vier Jahre ins Land gehen. Effektiver Rechtsschutz in Kündigungsangelegenheiten sieht für die beteiligten Arbeitsvertragsparteien anders aus.

Autor: Rechtsanwalt Dr. Christoph Fingerle, Friedrich Graf von Westphalen, Freiburg

Quelle: Pressemitteilung des BAG Nr. 13/24 v. 23.5.2024