Zum Hauptinhalt springen Zur Suche springen Zur Hauptnavigation springen
Menschen in einem dunklen Raum mit bunter Lichtstimmung, Fokus auf dem Hinterkopf einer Person im Vordergrund

Anm. zu EuGH: Arbeitgeber sind verpflichtet, Arbeitsbedingungen von Eltern eines behinderten Kindes so anpassen, dass diese nicht „mitdiskriminiert“ werden

Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

Der EuGH hat mit Urteil vom 11.09.2025 (C-38/24) klargestellt, dass das Verbot der mittelbaren Diskriminierung wegen einer Behinderung nach der RL 2000/78/EG auch Arbeitnehmer schützt, die nicht selbst behindert sind, aber als Elternteil ein behindertes Kind betreuen. Um eine „assoziierte“ Diskriminierung zu verhindern, treffen den Arbeitgeber solcher Eltern bestimmte Verpflichtungen (Entscheidungszusammenfassung mit Praxishinweisen der Kanzlei Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB).

Sachverhalt:

Die Klägerin war bei einem italienischen Arbeitgeber als Stationsaufsicht tätig. Als Mutter eines schwerbehinderten minderjährigen Sohnes war die Klägerin für dessen Betreuung zuständig.  Um die regelmäßige Therapie Ihres Sohnes zu ermöglichen, die zu festen Therapiezeiten stets nachmittags erfolgte und eine verlässliche Begleitperson erforderte, beantragte die Klägerin bei Ihrem Arbeitgeber eine dauerhafte Anpassung ihrer Arbeitsbedingungen. Konkret forderte Sie einen festen Einsatzort und die Einteilung ausschließlich in der Morgenschicht 8:30–15:00 Uhr (hilfsweise Versetzung auf einen geringer qualifizierten Arbeitsplatz). Der Arbeitgeber lehnte eine verbindliche Dauerregelung ab und gewährte lediglich vorläufige Erleichterungen. Deshalb reichte die Klägerin Klage vor dem Tribunale di Roma ein. Mit ihrer Klage beantragte die Klägerin, das Verhalten der Beklagten als diskriminierend festzustellen, weil die begehrte dauerhafte Anpassung ihrer Arbeitsbedingungen verweigert wurde, die Beklagte zu verpflichten, sie dauerhaft morgens von 8:30 bis 15:00 Uhr an einem festen Arbeitsplatz einzusetzen, die Aufstellung eines Beseitigungs- und Präventionsplans gegen die festgestellte Diskriminierung anzuordnen sowie Schadensersatz.

Das Tribunale di Roma wies die Klage ab. Auf die Berufung der Klägerin bestätigte die Corte d’appello di Roma die Abweisung in der Sache. Zur Begründung führte das Berufungsgericht im Wesentlichen aus, ein diskriminierendes Verhalten sei nicht nachgewiesen; außerdem habe die Beklagte „angemessene Vorkehrungen“ im Sinne einer vorläufigen Anpassung bereits gewährt. Die Klägerin legte daraufhin Kassationsbeschwerde bei der Corte suprema di cassazione ein. Während des Verfahrens wurde die Klägerin im Oktober 2022 von der Beklagten entlassen.

Das vorlegende Gericht sah unionsrechtlichen Klärungsbedarf und rief den EuGH im Wege der Vorabentscheidung (Art. 267 AEUV) an. Es stellte insbesondere folgende Fragen: Ob der unionsrechtliche Schutz vor mittelbarer Diskriminierung wegen Behinderung nach der RL 2000/78/EG auch eine Betreuungsperson erfasst, die nicht selbst behindert ist, aber wegen der Unterstützung ihres behinderten Kindes benachteiligt wird (Stichwort: assoziierte/mittelbare Diskriminierung), ob Arbeitgeber nach Art. 5 RL 2000/78 verpflichtet sind, angemessene Vorkehrungen zugunsten einer solchen Betreuungsperson zu treffen, um die Gleichbehandlung sicherzustellen, soweit dies keine unverhältnismäßige Belastung darstellt und wie für Zwecke der Richtlinie der Begriff der „Betreuungsperson“ zu verstehen ist.

Ein Antrag der Klägerin auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens wurde durch den EuGH zurückgewiesen. Der Gerichtshof entschied sodann über die ersten beiden Vorlagefragen und stellte die Unzulässigkeit der dritten Frage fest.

Entscheidungsgründe:

In seinem Urteil stellt der EuGH nun klar. Die Richtlinie 2000/78/EG konkretisiert das in Artikel 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Diskriminierungsverbot und ist im Lichte der Artikel 24 und 26 der Charta sowie des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) auszulegen. Bereits im Urteil „Coleman“ (C-303/06) hat der EuGH entschieden, dass eine unmittelbare assoziierte Diskriminierung vorliegt, wenn ein Arbeitnehmer zwar nicht selbst behindert ist, aber wegen der Pflege und Unterstützung eines behinderten Kindes benachteiligt wird. Mit der vorliegenden Entscheidung erweitert der EuGH diesen Schutz und erkennt ausdrücklich auch die mittelbare assoziierte Diskriminierung an. Demnach können formal neutrale Regelungen – etwa starre Schichtsysteme oder einheitliche Arbeitszeitmodelle – Betreuungspersonen indirekt benachteiligen, wenn diese aufgrund ihrer familiären Pflegeverpflichtungen typischerweise nicht in gleicher Weise wie andere Arbeitnehmer von solchen Regelungen profitieren können. Der EuGH stützt diese Auslegung auf den Ansatz der Richtlinie 2000/78 (Art. 1 und 2), wonach sich das Diskriminierungsverbot nicht auf bestimmte Personengruppen, sondern auf bestimmte Diskriminierungsgründe bezieht, sowie auf Parallelen zur Richtlinie 2000/43/EG, deren Rechtsprechung – insbesondere das Urteil „CHEZ“ (C-83/14) – die mittelbare assoziierte Diskriminierung bereits anerkannt hat.

Der EuGH erweitert in seiner Entscheidung die Reichweite von Artikel 5 der Richtlinie 2000/78/EG erheblich. Danach dienen angemessene Vorkehrungen nicht mehr ausschließlich dem unmittelbaren Schutz von Menschen mit Behinderungen selbst, sondern – im Lichte von Artikel 2 und 7 UN-BRK sowie Artikel 24 und 26 der Grundrechtecharta – auch der wirksamen Unterstützung der betreuenden Arbeitnehmer. Ziel ist es, sowohl die Teilhabe des behinderten Kindes als auch die Erwerbstätigkeit der Betreuungsperson praktisch zu ermöglichen und zu sichern. Würde dieser Zusammenhang unberücksichtigt bleiben, liefe das Verbot der mittelbaren assoziierten Diskriminierung leer, so der EuGH.

Als mögliche Maßnahmen nennt der EuGH insbesondere Anpassungen der Arbeitszeit, etwa durch feste oder verkürzte Arbeitszeiten, die Umsetzung auf einen anderen Arbeitsplatz oder organisatorische Änderungen hinsichtlich Arbeitsort, Ablauf oder Aufgabenverteilung. Solche Vorkehrungen sollen es der Betreuungsperson erlauben, ihre familiären Verpflichtungen mit der Berufsausübung zu vereinbaren.

Allerdings betont der EuGH zugleich die Grenzen der Zumutbarkeit. Arbeitgeber sind nur verpflichtet, solche Anpassungen vorzunehmen, soweit sie keine unverhältnismäßige Belastung darstellen. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sind insbesondere der finanzielle und organisatorische Aufwand, die Größe und Ressourcen des Unternehmens sowie die Verfügbarkeit öffentlicher Fördermittel oder Unterstützungsprogramme zu berücksichtigen. Darüber hinaus besteht eine Verpflichtung zur Umsetzung nur dann, wenn auch tatsächlich geeignete Arbeitsplätze oder Einsatzmöglichkeiten vorhanden sind.

Hinweis für die Praxis:

Für Arbeitgeber in der EU und insbesondere in Deutschland ergibt sich aus dem Urteil eine klare Compliance-Pflicht: Anträge von Beschäftigten, die ein behindertes Kind betreuen, sind diskriminierungsrechtlich zu prüfen – nicht bloß unter dem Aspekt der Familienfreundlichkeit. Arbeitgeber müssen ein strukturiertes Verfahren zur Prüfung solcher Anliegen einrichten. Dazu gehören die Ermittlung des konkreten Betreuungsbedarfs, die Dokumentation möglicher Anpassungsoptionen (z. B. feste oder verschobene Arbeitszeiten, Homeoffice, Versetzung) und eine Abwägung der Zumutbarkeit unter Berücksichtigung von Kosten, Personalbedarf, Betriebsabläufen und ggf. Fördermöglichkeiten. Ablehnungen sind begründet und nachvollziehbar festzuhalten, pauschale Verweise auf betriebliche Erfordernisse genügen nicht.

Auch das AGG ist richtlinien- und charterkonform auszulegen, sodass assoziierte Diskriminierungen erfasst werden. Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung sind einzubeziehen, da Arbeitszeitregelungen häufig mitbestimmungspflichtig sind. Ohne ernsthafte Prüfung drohen Entschädigungs- oder Unterlassungsansprüche.

Es bleibt festzuhalten: Arbeitgeber müssen Pflegeverantwortung für behinderte Kinder arbeitsorganisatorisch ernst nehmen und – wo zumutbar – konkrete Anpassungen ermöglichen. Nur eine dokumentierte, verhältnismäßige Prüfung schützt vor unionsrechtlichen Verstößen.

Autoren: Rechtsanwalt Dr. Christoph Fingerle und Elsa Rein, Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB, Freiburg

Quelle: Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 11.9.2025 (C-38/24)