Anm. zu LAG Niedersachen: Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Entgeltfortzahlungsgesetz

Das LAG Niedersachsen hat mit Urteil v. 18.4.2024 (6 Sa 416/23) die Rechtsprechung des BAG zur Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und der damit einhergehenden abgestuften Darlegungs- und Beweislast fortgeschrieben (Entscheidungszusammenfassung mit Praxishinweisen der Kanzlei Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB).

Sachverhalt:

Die Klägerin, eine teilzeitbeschäftigte kaufmännische Angestellte, streitet mit der Beklagten, ihrem ehemaligen Arbeitgeber, um Entgeltansprüche für Dezember 2022. Das Arbeitsverhältnis wurde durch eine Kündigung der Beklagten zum 15.1.2023 beendet. Die Klägerin meldete sich ab dem 12.12.2022 krank und legte verschiedene Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor. Der Geschäftsführer der Beklagten teilte der Klägerin zudem mit, dass sie in der Woche vom 12.-18.12.2022 nicht zur Arbeit erscheinen solle. Die Beklagte leistete insgesamt keine Zahlungen für Dezember. Daraufhin klagte die Klägerin auf Zahlung von 2.026,00 € brutto für Dezember 2022.

Entscheidungsgründe:

Während das Arbeitsgericht Hannover der Klägerin in vollem Umfang Recht gab, urteilte das LAG Niedersachen, dass der Klägerin lediglich für den Zeitraum vom 01. bis 18. Dezember auf Grund Arbeitsleistung bzw. Freistellung einen Vergütungsanspruch i.H.v. 1.013,00 € brutto zustehe.

Für den Zeitraum vom 19. bis 31. Dezember 2022 hingegen wurde der Anspruch der Klägerin auf Vergütung abgelehnt. Dem LAG zufolge, habe die Klägerin für diesen Zeitraum keinen ausreichenden Nachweis einer Arbeitsunfähigkeit erbracht. Die vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen genügten den Anforderungen nicht, insbesondere weil die Bescheinigungen nicht auf persönlichen Untersuchungen basierten, sondern telefonisch ausgestellt wurden. Dies stand im Widerspruch zu den seinerzeit geltenden Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL), die eine persönliche Untersuchung für die Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorschreiben. Weiterhin habe die Klägerin nicht hinreichend dargelegt, dass ihre Erkrankung sie tatsächlich an der Arbeitsleistung hinderte. Ihr Vortrag beschränkte sich auf allgemeine Angaben über ihre Symptome und war nicht ausreichend detailliert, um eine fortwährende Arbeitsunfähigkeit zu belegen.

Hinweise für die Praxis:

Der Rechtsprechung des BAG zufolge besitzt eine ordnungsgemäß ausgestellte ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einen hohen Beweiswert (vgl. BAG v. 26.2.2003, 5 AZR 112/02). Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) wird durch die Vorlage einer solchen Bescheinigung vermutet, dass der Arbeitnehmer arbeitsunfähig krank ist. Diese Vermutung kann allerdings erschüttert werden, wenn der Arbeitgeber konkrete Tatsachen vorbringt, die ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit der Bescheinigung wecken (vgl. etwa BAG v. 8.9.2021, 5 AZR 149/2).

Zu beachten ist hierbei, dass die AU-RL grundsätzliche Vorgaben im Hinblick auf die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit macht. Entsprechend § 4 Abs. 5 der AU-RL müssen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen grundsätzlich auf einer persönlichen (auch Video-)Untersuchung beruhen. Ferndiagnosen können nach § 4 Abs. 5a der AU-RL zwar zwischenzeitlich „bei Versicherten mit Erkrankungen, die keine schwere Symptomatik vorweisen, auch nach telefonischer Anamnese mit der Maßgabe erfolgen, dass die erstmalige Feststellung der Arbeitsunfähigkeit über einen Zeitraum von bis zu fünf Kalendertagen nicht hinausgehen soll“. Kann der Arbeitgeber jedoch insofern begründete Zweifel an einer AU vortragen, obliegt es dem Arbeitnehmer hinreichend konkrete Tatsachen darzulegen, die eine fortwährende Arbeitsunfähigkeit auf Grund der behaupteten Krankheitssymptome glaubhaft machen. Hierzu gehören etwa Behandlungsmethode, Verhaltensempfehlungen oder auch Medikamentengaben. Das LAG stellte unter Verweis auf die BAG-Rechtsprechung (vgl. BAG v. 13.12.2023, 5 AZR 137/23, Rz. 14) insofern zurecht fest, dass es der Klägerin zumutbar und möglich gewesen wäre, „zumindest laienhaft vorzutragen, wie sich der behauptete Magen- und Darminfekt mit seinen i.d.R. recht eindeutig wahrnehmbaren Folgen konkret bei ihr ausgewirkt hat“. Hierzu gehört im Zweifel auch, welche Beschwerden genau in welcher Frequenz und Intensität bestanden und wenn ja, welche Verhaltensmaßregeln und/oder Medikamente ärztlich verordnet worden sind. Die Entscheidung unterstreicht die Bedeutung einer sorgfältigen und regelkonformen Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Es bleibt zu hoffen, dass sich Gerichte die Mühe einer Beweisaufnahme machen und nicht, wie in der Praxis leider nicht selten, unter Verweis auf die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits im Gütetermin einer entsprechenden Argumentation den Riegel vorschieben. Arbeitgeber sollten daher auch weiterhin Echtheit von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen kritisch prüfen.

Autor: Rechtsanwalt Dr. Andreas Schubert, Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB, Freiburg

Quelle: LAG Niedersachsen, Urt. vom 18.4.2024 (6 Sa 416/23)