Anm. zu LAG Niedersachsen: Unfall beim Rückwärtsfahren mit dem Firmenfahrzeug: Anwendung der Grundsätze über die beschränkte Arbeitnehmerhaftung
Arbeitnehmerhaftung
Das LAG Niedersachsen hat mit Urteil vom 10.4.2024 (2 Sa 642/23) die vom BAG aufgestellten Grundsätze der privilegierten Arbeitnehmerhaftung im Rahmen eines Unfalls mit einem Firmenfahrzeug berücksichtigt (Entscheidungszusammenfassung mit Praxishinweisen der Kanzlei Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB).
Sachverhalt:
Die Parteien streiten über Zahlungsansprüche i.V.m. einem beendeten Arbeitsverhältnis. Der Kläger war bei der Beklagten zu 1) beschäftigt; er verdiente monatlich 2.700,00 EUR brutto. Der Beklagte zu 2) ist der Geschäftsführer der Beklagten zu 1). Dem Kläger wurde im Laufe des Arbeitsverhältnisses über einen Leasingvertrag ein Firmenfahrzeug überlassen. Für das Fahrzeug war eine Vollkaskoversicherung abgeschlossen. Im Juli 2022 kam es sodann zu einem Unfall: der Kläger fuhr auf dem Betriebsgelände der Beklagten zu 1) beim Zurücksetzen mit dem ihm überlassenen Firmenfahrzeug auf den im Eigentum des Beklagten zu 2) stehenden BMW auf. Der BMW des Beklagten zu 2) war zum Unfallzeitpunkt abgemeldet.
Der Kläger verlangte von der Beklagten zu 1) die Zahlung der Bruttovergütung für den Monat Januar 2023 sowie gesamtschuldnerisch von den Beklagten zu 1) und 2) die Zahlung eines Schmerzengeldes. Die Beklagte zu 1) hat gegenüber dem dem Kläger zustehenden Lohnanspruch i.H.v. 2.700,00 EUR brutto die Aufrechnung mit Schadensersatzansprüchen betreffend die Schäden an den beiden PKWs erklärt. Sodann verfolgte die Beklagte zu 1) ihre geltend gemachten Schadensersatzansprüche mit Erhebung einer entsprechenden Widerklage weiter.
Das erstinstanzlich zuständige Arbeitsgericht hat der Klage hinsichtlich des Vergütungsanspruchs für den Monat Januar 2023 stattgegeben und die Widerklage abgewiesen.
Entscheidungsgründe:
Das LAG Niedersachsen hat als zuständiges Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil abgeändert und der erhobenen Widerklage teilweise stattgegeben.
Die Beklagte zu 1) habe gegenüber dem Kläger wegen des von ihm verursachten Schadens an dem BMW des Beklagten zu 2) einen Anspruch auf Zahlung von 1.543,37 EUR gem. §§ 823 Abs. 1, 398 BGB. Der Beklagte zu 2) habe durch schriftlichen Forderungsabtretungsvertrag seinen Anspruch an die Beklagte zu 1) wirksam nach § 398 BGB abgetreten. Dem Beklagten zu 2) seien durch den von dem Kläger verursachten Unfall kausal Schäden i.H.v. 2.315,06 EUR entstanden. Nach Überzeugung des LAG Niedersachsen hafte der Kläger für den von ihm verursachten Schaden allerdings nur anteilig i.H.v. 1.543,37 EUR. Die Haftungsbeschränkung des Klägers ergebe sich aus den vom BAG aufgestellten Grundsätzen der privilegierten Arbeitnehmerhaftung. Das LAG führt dazu zunächst aus, dass die Anwendung dieser Grundsätze ein betrieblich veranlasstes Handeln des Arbeitnehmers erfordere. Sofern die Grundsätze zur privilegierten Arbeitnehmerhaftung zur Anwendung gelangen, so habe ein Arbeitnehmer vorsätzlich verursachte Schäden in vollem Umfang zu tragen, bei leichtester Fahrlässigkeit hafte er dagegen nicht. Bei normaler Fahrlässigkeit sei der Schaden in aller Regel zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu teilen. Bei Vorliegen einer groben Fahrlässigkeit habe der Arbeitnehmer in aller Regel den gesamten Schaden zu tragen. Der Umfang der Beteiligung des Arbeitnehmers an den Schadensfolgen sei durch eine Abwägung der Gesamtumstände zu bestimmen, wobei insbesondere Schadensanlass, Schadensfolgen, Billigkeits- und Zumutbarkeitsgesichtspunkte eine Rolle spielen würden. Die Beweislast für die Pflicht- bzw. Rechtsgutverletzung, die haftungsbegründende und haftungsausfüllende Kausalität sowie den Schaden habe der Arbeitgeber zu tragen.
Bei der gebotenen Anwendung dieser Grundsätze ist das LAG zu dem Ergebnis gelangt, dass den Kläger bei der Verursachung des Unfalles zwischen den beiden Fahrzeugen mittlere Fahrlässigkeit im oberen Bereich vorzuhalten sei. Rückwärtsfahren sei auf Grund der eingeschränkten Sichtverhältnisse stets mit besonderen Gefahren verbunden. Es sei deshalb zwingend erforderlich, sich vor der Fahrt zu vergewissern, dass der rückwärtige Fahrweg frei von Hindernissen ist. Während des Rückwärtsfahrens sei es erforderlich, sich permanent durch die Benutzung des Innen- und der Außenspiegel sowie durch einen Schulterblick sich zu vergewissern, dass die avisierte Fahrstrecke frei von etwaigen Hindernissen ist. Gegebenenfalls müsse sich der Fahrer durch einen Beifahrer oder eine dritte Person einweisen lassen.
Hinweise für die Praxis:
Die Entscheidung des LAG stellt die Grundsätze der privilegierten Arbeitnehmerhaftung ausführlich und zutreffend dar. Arbeitnehmern sollte dabei bewusst sein, dass diese Grundsätze bei einer Gesamtabwägung aller Einzelfallumstände durchaus häufiger als gedacht eine volle oder jedenfalls anteilige Haftung zur Folge haben können. Bevor die gebotene Abwägung der Gesamtumstände vorzunehmen ist, muss jedoch stets geprüft werden, ob ein „betrieblich veranlasstes Handeln“ des Arbeitnehmers gegeben ist. Tätigkeiten, die dem allgemeinen Lebensrisiko des Arbeitnehmers zugeordnet werden können, sind von der Haftungsbeschränkung nicht betroffen. Bereits bei dieser Rechtsfrage können erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten auftreten, die je nach Ergebnis darüber entscheiden, in welcher Höhe ein Arbeitnehmer an einem entstandenen Schaden zu beteiligen ist.
Autor: Rechtsanwalt Felix Häringer, Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB, Freiburg i. Br.
Quelle: LAG Niedersachsen, Urteil vom 10.4.2024 (2 Sa 642/23)