BFH: Gehörsverletzung bei Übergehen des Kerns des Vorbringens eines Beteiligten
Finanzgerichtsordnung
BFH, Beschluss vom 26.09.2024, X B 28/24
Verfahrensgang: FG München, 11 K 1562/23 vom 29.02.2024
Leitsatz:
1. NV: Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Vortrags eines Beteiligten zu einer zentralen Frage des Rechtsstreits in den Entscheidungsgründen nicht ein, handelt es sich regelmäßig um eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Gleiches gilt, wenn das Gericht den erkennbaren Kerngehalt des Vortrags des Beteiligten nicht ausschöpft.
2. NV: Weicht das aus dem Poststempel ersichtliche Datum von dem Absendevermerk der Behörde ab, gebührt regelmäßig dem Poststempel der Vorrang.
3. NV: Wenn ein Urteil angegriffen wird, das zu mehreren Verwaltungsakten (Streitgegenständen) ergangen ist, ist grundsätzlich erst die Rechtsmittelbegründungsschrift für die Konkretisierung des Umfangs der Urteilsanfechtung maßgebend. Wenn einzelne Streitgegenstände zwar nicht im Rubrum der Rechtsmittelschrift, wohl aber in der Rechtsmittelbegründungsschrift bezeichnet werden, ist das Urteil daher auch hinsichtlich dieser Streitgegenstände als angefochten anzusehen, sofern zuvor nicht ein ausdrücklicher und eindeutiger Rechtsmittelverzicht ausgesprochen worden ist.
Gründe:
I. Der --im Klageverfahren nicht durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten gewesene-- Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) erhob am 16.08.2023 Klage gegen die auf den 07.07.2023 datierte Einspruchsentscheidung des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt --FA--) über Einkommensteuer 2018 und 2019 sowie Verspätungszuschläge zur Einkommensteuer 2018 und 2019. Das Finanzgericht (FG) hat --ohne Einzelheiten festzustellen-- ausgeführt, das FA habe dokumentiert, die Einspruchsentscheidung am 11.07.2023 mit einfachem Brief zur Post gegeben zu haben.
In der Klageschrift erklärte der Kläger unter anderem Folgendes:
"Fristen
Laut Rechtsbehelfsbelehrung gilt bei Zusendung durch einfachen Brief, die Einspruchsentscheidung mit dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post als bewirkt.
Gemäß § 222 ZPO, Abs. 2, Fristberechnung, wenn das Ende einer Frist auf einen allgemeinen Feiertag fällt, endet die Frist mit Ablauf des nächsten Werktages. Die Einspruchsentscheidung wurde dem Kläger, laut Poststempel, am 12.7.23 per Post zugestellt, Anlage K0, somit endet die Frist am 16.08.2023, da der 15.08.2023 ein Feiertag war."
Der Klageschrift war ein vom FA versandter Briefumschlag beigefügt, der einen Poststempel vom 12.07.2023 trägt.
Das FG hat dies als Wiedereinsetzungsantrag gewertet und die Klage wegen Versäumung der Klagefrist für unzulässig erachtet. Da die Einspruchsentscheidung am 11.07.2023 zur Post gegeben worden sei, gelte sie am 14.07.2023 als bekanntgegeben, so dass die Klagefrist am 14.08.2023 abgelaufen sei. Nichts anderes ergebe sich, wenn man den Vortrag des Klägers zugrunde lege, die Einspruchsentscheidung sei ihm bereits am 12.07.2023 zugestellt worden. Weitere Wiedereinsetzungsgründe seien nicht vorgetragen worden.
In der mündlichen Verhandlung am 29.02.2024 verkündete die Einzelrichterin den Beschluss, dass die Entscheidung den Beteiligten zugestellt werde. Am 11.03.2023 --noch vor Zustellung des Urteils an ihn-- übermittelte der Kläger dem FG einen Schriftsatz, in dem er erklärte, als juristischer Laie habe er auf den erst in der mündlichen Verhandlung erteilten Hinweis des FG, dass die Klage verfristet sei, nicht sofort sachgerecht reagieren können. Die Einspruchsentscheidung sei ausweislich des von ihm vorgelegten Briefumschlags am 12.07.2023 abgesandt worden; ein anderes Datum sei dem Kläger nicht bekannt. Ferner führte er Rechtsprechung zur Frage der Fristwahrung an und beantragte, eine erneute mündliche Verhandlung durchzuführen. Am 12.03.2024 wurde ihm das Urteil zugestellt.
Mit seiner Beschwerde begehrt der Kläger die Zulassung der Revision wegen Verfahrensmängeln. Bei Einlegung der Beschwerde hat er als Streitgegenstand "wegen Einkommensteuer 2018 und 2019" angegeben. In einem nachfolgenden Fristverlängerungsantrag hat er keinen Streitgegenstand genannt. In der --erst nach Ablauf der Beschwerdefrist eingereichten-- Beschwerdebegründung heißt es demgegenüber "wegen Einkommensteuer 2018 und 2019 und Verspätungszuschlag zur Einkommensteuer 2018 und 2019".
Das FA hält die Beschwerde wegen Nichterfüllung der Darlegungsanforderungen für unzulässig.
II. 1. Der Gegenstand der Beschwerde beschränkt sich nicht allein auf die Einkommensteuer 2018 und 2019, sondern umfasst auch die Festsetzungen der Verspätungszuschläge zur Einkommensteuer 2018 und 2019.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) hemmt die rechtzeitige Einlegung eines Rechtsmittels grundsätzlich den Eintritt der Rechtskraft für das gesamte angefochtene Urteil. Deshalb schadet es nicht, wenn ein bestimmter Verwaltungsakt zwar nicht in der Rechtsmitteleinlegungsschrift bezeichnet wird, wohl aber in der Rechtsmittelbegründungsschrift. Etwas anderes gilt nur dann, wenn zuvor ein ausdrücklicher und eindeutiger Rechtsmittelverzicht ausgesprochen wird (zum Ganzen Senatsbeschluss vom 11.05.2010 - X B 183/09, BFH/NV 2010, 2077, Rz 2, m.w.N.). Auch im umgekehrten Fall --in der Rechtsmittelbegründung werden weniger Streitgegenstände genannt als in der Rechtsmittelschrift-- wird erst in der Rechtsmittelbegründung die Konkretisierung der Streitgegenstände vorgenommen (Senatsurteil vom 09.07.2019 - X R 9/17, BFHE 265, 354, BStBl II 2021, 418, Rz 21, m.w.N.).
Vorliegend hat der Kläger die Verspätungszuschläge zwar nicht in der Beschwerdeschrift, wohl aber ausdrücklich im Rubrum der Beschwerdebegründungsschrift als Streitgegenstände benannt. Einen ausdrücklichen und eindeutigen Rechtsmittelverzicht hat er nicht erklärt. Damit steht die Nichterwähnung der Verspätungszuschläge in der Beschwerdeschrift ihrer --weiteren-- Einbeziehung in den Rechtsstreit nicht entgegen.
2. Die so ausgelegte Beschwerde ist begründet. Es liegt ein vom Kläger geltend gemachter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des FG beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Die vom Kläger --jedenfalls sinngemäß-- erhobene Rüge, das FG habe in verfahrensfehlerhafter Weise seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, indem es den Kern des Klägervorbringens nicht zur Kenntnis genommen habe, greift durch.
a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) verpflichtet das Gericht dazu, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Auch wenn nach einer in der höchstrichterlichen und verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung vielfach verwendeten Formel grundsätzlich davon auszugehen ist, dass dies geschehen ist, selbst wenn das Gericht Vorbringen in den Gründen seiner Entscheidung nicht ausdrücklich bescheidet, liegt ein Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände gegeben sind, die verdeutlichen, dass erhebliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist. So kann es sich verhalten, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Vortrags eines Beteiligten zu einer zentralen Frage des Rechtsstreits in den Entscheidungsgründen nicht eingeht (vgl. zum Ganzen Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 05.07.2013 - 1 BvR 1018/13, Monatsschrift für Deutsches Recht 2013, 1113, Rz 14 f. und vom 17.09.2020 - 2 BvR 1605/16, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2021, 50, Rz 14; Beschlüsse des Bundesgerichtshofs vom 24.03.2015 - VI ZR 179/13, NJW 2015, 2125, Rz 11 und vom 23.04.2024 - VIII ZR 35/23, NJW 2024, 2393, Rz 12; Senatsbeschluss vom 13.08.2020 - X B 26/20, BFH/NV 2021, 201, Rz 19 f., alle m.w.N.).
b) Vorliegend hatte der Kläger in seiner Klageschrift --entgegen der Annahme des FG-- keinen Wiedereinsetzungsantrag gestellt. Der Begriff "Wiedereinsetzung" findet sich in der gesamten Klageschrift nicht. Der Kläger weist in seiner Beschwerdebegründung vielmehr zu Recht darauf hin, dass der Kern seines Vortrags darin gelegen habe, die Klagefrist sei erst am 16.08.2023 abgelaufen, und diese rechtliche Schlussfolgerung nur dann schlüssig sei, wenn man davon ausgehe, dass der Kläger durch die Vorlage des Briefumschlags mit dem Poststempel "12.07.2023" habe belegen wollen, dass die Einspruchsentscheidung erst am 12.07.2023 zur Post gegeben worden sei.
Das FG hat hingegen ausschließlich die wörtliche Erklärung des Klägers herangezogen, die Einspruchsentscheidung sei ihm "laut Poststempel, am 12.7.23 per Post zugestellt" worden. Damit hat es den --ohne Weiteres erkennbaren-- Kern des Vortrags des Klägers aber nicht ausgeschöpft. Die wörtliche Erklärung des Klägers konnte offensichtlich nicht zutreffen. Zum einen kann eine Briefsendung, die --was der Kläger zumindest glaubhaft gemacht hatte-- einen Poststempel vom 12.07.2023 trägt, dem Adressaten nicht schon am selben Tage zugehen. Zum anderen ist die Einspruchsentscheidung dem Kläger auch nicht "zugestellt", sondern mit einfachem Brief übermittelt worden. Das FG hätte daher die wörtliche Äußerung des Klägers, bei dem es sich erkennbar um einen juristischen Laien handelt, dahingehend auslegen müssen, dass das wirklich Gewollte im Prozess zum Tragen gekommen wäre. Ergebnis dieser Auslegung hätte --wie vom Kläger in der Beschwerdebegründung zutreffend vorgetragen-- nur sein können, dass der Kläger hat vortragen wollen, die Einspruchsentscheidung sei ausweislich des vorgelegten Briefumschlags mit dem Poststempel am 12.07.2023 zur Post gegeben worden, so dass die Klagefrist erst am 16.08.2023 abgelaufen und damit gewahrt worden sei. Mit diesem Kern des --sachgerecht ausgelegten-- Vorbringens des Klägers hat sich das FG in seiner Entscheidung nicht befasst.
c) Der Kläger hat sich zwar nicht ausdrücklich auf einen Gehörsverstoß berufen. Bei Verfahrensmängeln genügt es aber, wenn der Beschwerdeführer die Tatsachen vorträgt, die den Verfahrensmangel ergeben; er muss nicht auch die verletzte Vorschrift des Verfahrensrechts bezeichnen (Senatsbeschluss vom 19.09.2012 - X B 138/11, BFH/NV 2013, 63, Rz 13). Hier enthält die Beschwerdebegründung sämtliche Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel in Gestalt eines Gehörsverstoßes ergibt.
3. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Für das weitere Verfahren weist der Senat --ohne Bindungswirkung für das FG-- auf die folgenden Punkte hin:
a) Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist regelmäßig vorrangig der Poststempel heranzuziehen, wenn das daraus ersichtliche Datum von dem Absendevermerk der Behörde abweicht (BFH-Urteile vom 18.07.1986 - III R 216/81, BFH/NV 1987, 12, unter 1.b aa; vom 09.10.1962 - I 313/61 U, BFHE 76, 70, BStBl III 1963, 25 und vom 29.10.1974 - I R 37/73, BFHE 114, 5, BStBl II 1975, 155; vgl. auch das vom Kläger zitierte Urteil des FG Hamburg vom 05.02.2015 - 3 K 201/14, Betriebs-Berater 2015, 1044, unter B.I.). Dies gilt allerdings nicht bei privaten Postdienstleistern, wenn festgestellt wird, dass diese den Stempelaufdruck derart vordatieren, dass er im Regelfall den Tag des Eingangs der Postsendung beim Empfänger aufweist (Senatsbeschluss vom 07.12.2010 - X B 212/09, BFH/NV 2011, 564, Rz 10).
b) Darüber hinaus rügt der Kläger zu Recht, das FG habe keine näheren Feststellungen zur Ausgestaltung des Absendevorgangs im FA getroffen. Ein Absendevermerk dokumentiert die Aufgabe zur Post grundsätzlich nur dann, wenn er von der Poststelle des FA stammt (BFH-Entscheidungen vom 09.12.2009 - II R 52/07, BFH/NV 2010, 824, Rz 27 und vom 26.02.2021 - X B 108/20, BFH/NV 2021, 929, Rz 9, 11). Ob dies vorliegend der Fall ist, ist offen geblieben.