BFH: Überprüfung eines rechtsgrundlosen Kapitalertragsteuereinbehalts

Einkommensteuer / Abgabenordnung

BFH, Urteil vom 22.05.2024, VIII R 20/22
Verfahrensgang: FG Hessen, 9 K 562/20 vom 09.11.2022

Leitsatz:

1. NV: Ob die Kapitalertragsteuer rechtsgrundlos einbehalten worden ist, wird auf Antrag gemäß § 32d Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) im Veranlagungsverfahren geprüft.

2. NV: Wird ein bestandskräftiger Einkommensteuerbescheid auf einen Antrag nach § 32d Abs. 4 EStG dahingehend geändert, dass einerseits Kapitalerträge steuererhöhend angesetzt werden, andererseits aber Kapitalertragsteuer mit der Folge einer anteiligen Erstattung angerechnet wird, handelt es sich aufgrund der gebotenen Einheitsbetrachtung von Festsetzungs- und Erhebungsverfahren um eine Änderung zu Gunsten des Steuerpflichtigen. Begehrt der Steuerpflichtige im Rahmen des Einspruchsverfahrens gegen diesen Änderungsbescheid eine weitergehende Änderung des Bescheids zu seinen Gunsten, ist dies gemäß § 351 Abs. 1 Halbsatz 2 der Abgabenordnung nur möglich, soweit die Bestandskraft der Steuerfestsetzung aufgrund einer verfahrensrechtlichen Änderungsvorschrift durchbrochen werden kann.

Gründe:

I. Die Beteiligten streiten darüber, ob es sich bei der von einer Bank aufgrund eines widerrufenen Darlehensvertrags gezahlten Nutzungsentschädigung für bereits erbrachte Zins- und Tilgungsleistungen um steuerbare Einkünfte handelt.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) schloss im Jahr 2006 einen Darlehensvertrag über 89.500 € mit der X-Bank zur Finanzierung einer selbstgenutzten Wohnimmobilie ab. Die X-Bank zahlte das Darlehen aus. Die Klägerin leistete monatliche Zins- und Tilgungsleistungen. Später widerrief sie ihre auf den Abschluss des Darlehensvertrags gerichtete Willenserklärung. In der Folgezeit erhob die Klägerin eine zivilrechtliche Klage gegen die X-Bank. Vor dem Oberlandesgericht Y kam es zu folgendem gerichtlichen Vergleich zwischen ihr und der X-Bank:

"Vergleich

Das streitgegenständliche Darlehen (...) ist von der Klägerin vorzeitig abgelöst worden. Vor diesem Hintergrund treffen die Parteien nachfolgende Regelung:

1. Zahlungspflicht der Beklagten

Die Beklagte zahlt an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 5.113,09 € als Rückzahlung der klägerseits entrichteten Vorfälligkeitsentschädigung.

Ferner zahlt die Beklagte an die Klägerin einen Nutzungsersatz in Höhe von 5.133,36 € abzüglich etwaig abzuführender Kapitalertragsteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag. (...)

2. Abgeltungsklausel

Mit Abschluss dieser Vereinbarung sind --mit Ausnahme der sich aus dieser Vergleichsvereinbarung ergebenden Ansprüche-- alle gegenwärtigen und zukünftigen, unbedingten und bedingten Ansprüche sowohl der Klägerin gegen die Beklagte als auch der Beklagten gegen die Klägerin, aus dem Darlehen, gleich aus welchem Rechtsgrund, ob bekannt oder unbekannt, sich direkt oder im Wege eines Rückabwicklungsanspruchs ergebend, abgegolten und erledigt."

Die X-Bank zahlte im Jahr 2017 (Streitjahr) an die Klägerin den im Vergleich vereinbarten Nutzungsersatz in Höhe von 5.133,36 € abzüglich Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag aus.

Die Klägerin erklärte in ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr vom 25.02.2018 keine Kapitalerträge. Erklärungsgemäß berücksichtigte das zu diesem Zeitpunkt noch örtlich zuständige Finanzamt Z im Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom 03.05.2018 keine Einkünfte aus Kapitalvermögen, die dem gesonderten Tarif gemäß § 32d Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr anzuwendenden Fassung (EStG) unterlagen. Eine Anrechnung von Kapitalertragsteuer auf die Einkommensteuer unterblieb.

Die Klägerin übersandte mit Schreiben vom 14.05.2019 dem Finanzamt Z eine von der X-Bank erstellte "Ersatz-Steuerbescheinigung" für das Streitjahr und erhob "Einspruch gegen den Abzug von Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag von dem Betrag 5.133,55 € aus dem Vergleich". Sie bat um Erstattung der unter Berücksichtigung eines Steuer-Pauschbetrags in Höhe von 606 € abgezogenen Kapitalertragsteuer in Höhe von 1.131,89 € und des Solidaritätszuschlags in Höhe von 62,25 €.

Das Finanzamt Z leitete das Schreiben der Klägerin am 02.08.2019 an den nunmehr örtlich zuständigen Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) weiter. Das FA erließ unter dem 04.09.2019 einen auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) gestützten geänderten Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr, in dem es erstmalig Kapitalerträge in Höhe von 5.133 € ansetzte. Unter Berücksichtigung des Sparer-Pauschbetrags in Höhe von 801 € gelangte es zu Einkünften aus Kapitalvermögen im Sinne des § 32d Abs. 1 EStG in Höhe von 4.332 €. Die von der X-Bank einbehaltene Kapitalertragsteuer und der Solidaritätszuschlag wurden auf die festgesetzte Einkommensteuer und den festgesetzten Solidaritätszuschlag angerechnet.

Die Klägerin legte gegen den Änderungsbescheid Einspruch ein und begehrte, den Betrag in Höhe von 5.133 € nicht der Besteuerung zu unterwerfen. Das FA wies den Einspruch mit Entscheidung vom 27.03.2020 als unbegründet zurück.

Die hiergegen erhobene Klage hatte aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2023, 1004 mitgeteilten Gründen keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) entschied, dass der von der X-Bank aufgrund des Widerrufs des Kreditverhältnisses geleistete Nutzungsersatz für die erbrachten Zins- und Tilgungsleistungen in Höhe von 5.133,36 € zu steuerpflichtigen Kapitalerträgen gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG führe. Die von der Klägerin geforderte Aufteilung des im Vergleich bezeichneten Nutzungsersatzes auf mehrere Positionen komme nicht in Betracht, weil dem der eindeutige Wortlaut und die Systematik des Vergleichs entgegenstünden. Auch habe das FA den Ursprungsbescheid vom 03.05.2018 mit dem Bescheid vom 04.09.2019 gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ändern dürfen.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Bundesrechts.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Hessischen FG vom 09.11.2022 - 9 K 562/20 und die Einspruchsentscheidung vom 27.03.2020 aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für 2017 vom 04.09.2019 dahingehend zu ändern, dass ein Betrag in Höhe von 5.133,36 € als nicht steuerbar behandelt wird.

Das FA beantragt sinngemäß,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

1. Das FG hat eine Änderung des Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr vom 04.09.2019 zu Gunsten der Klägerin zu Unrecht mit der Begründung abgelehnt, dass es sich bei dem im Rahmen der Rückabwicklung des Darlehensvertrags von der X-Bank an die Klägerin geleisteten Nutzungsersatz in Höhe von 5.133,36 € um einen steuerpflichtigen Kapitalertrag im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG handele. Der gezahlte Nutzungsersatz ist kein steuerbarer Kapitalertrag.

a) Die Entscheidung des FG, dass der im Rahmen der Rückabwicklung des Darlehensvertrags von der X-Bank an die Klägerin geleistete Nutzungsersatz für Zins- und Tilgungsleistungen in Höhe von 5.133,36 € zu einem Kapitalertrag im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG führt, hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Der Nutzungsersatz ist nicht steuerbar. Er beruht nicht auf einer erwerbsgerichteten Tätigkeit der Klägerin und ist mithin nicht innerhalb der steuerbaren Erwerbssphäre angefallen.

b) Im Streitfall hat das FG den zwischen der Klägerin und der X-Bank geschlossenen Vergleich für den Senat bindend dahingehend ausgelegt, dass in ihm ausschließlich die wechselseitigen Ansprüche aus dem Rückgewährschuldverhältnis im Wege des gegenseitigen Nachgebens erledigt werden sollten und der Vergleichsbetrag von 5.133,36 € ausschließlich als Zahlung von Nutzungsersatz anzusehen sei. Dagegen sind keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen erhoben worden. Die Auslegung des FG verstößt auch nicht gegen anerkannte Auslegungsgrundsätze oder Denk- und Erfahrungssätze und ist daher für den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindend.

c) Der von der Klägerin vereinnahmte Nutzungsersatz in Höhe von 5.133,36 € ist kein steuerbarer Kapitalertrag gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG. Im Streitfall ist die Rückabwicklung des Darlehens nach den in den Urteilen des Senats vom 07.11.2023 - VIII R 7/21 (BStBl II 2024, 353) und VIII R 16/22 (BStBl II 2024, 357) dargelegten Maßstäben keine steuerbare erwerbsgerichtete Tätigkeit. Das Rückgewährschuldverhältnis ist im Streitfall, in dem ausschließlich das Darlehen aufgrund des Widerrufs rückabgewickelt worden ist, als Einheit zu behandeln. Dies gilt unabhängig davon, ob die Rückabwicklung einvernehmlich, durch Vergleich, durch zivilgerichtliches Urteil oder auf andere Weise vollzogen wird und ob die Parteien des ursprünglichen Darlehensvertrags --wie im Streitfall-- anstelle der Leistung von Wertersatz an die Bank auf eine Rückabwicklung der vom Darlehensnehmer geleisteten Zinszahlungen verzichten. Daher kommt eine isolierte Betrachtung und Besteuerung der streitigen Zahlung als Nutzungsersatz nicht in Betracht. Der Senat verweist zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zitierten Entscheidungen.

2. Die Entscheidung des FG stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 126 Abs. 4 FGO). Da es sich bei der ausschließlichen Rückabwicklung des Darlehensvertrags nicht um einen Leistungsaustausch in der Erwerbssphäre handelt, kommt eine Besteuerung der Zahlung auch nicht gemäß § 22 Nr. 3 EStG in Betracht. Wegen der weiteren Begründung nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auch insoweit auf seine Urteile vom 07.11.2023 - VIII R 7/21 (BStBl II 2024, 353) und VIII R 16/22 (BStBl II 2024, 357) Bezug.

3. Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif. Der Senat vermag auf der Grundlage der vom FG getroffenen Feststellungen verfahrensrechtlich nicht abschließend zu beurteilen, ob der Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom 04.09.2019 auf den Änderungsantrag der Klägerin hin zu ihren Gunsten dahingehend zu ändern ist, dass der Nutzungsersatz in Höhe von 5.133,36 € unter Anrechnung der Kapitalertragsteuer und des Solidaritätszuschlags als nicht steuerbar behandelt wird (unter II.3.a). Er kann das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der in Betracht kommenden Korrekturnorm des § 173 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 351 Abs. 1 Halbsatz 2 AO (unter II.3.b) nicht abschließend beurteilen (unter II.3.c).

a) Die Klägerin hat mit Schreiben vom 14.05.2019 einen Antrag auf Änderung des (formell bestandskräftigen) Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr vom 03.05.2018 einschließlich eines Antrags auf Überprüfung des Steuereinbehalts für den Nutzungsersatz gemäß § 32d Abs. 4 EStG gestellt, dem das FA im Bescheid vom 04.09.2019 für das Streitjahr nur zum Teil nachgekommen ist.

aa) Gemäß § 32d Abs. 4 EStG kann der Steuerpflichtige für Kapitalerträge, die der Kapitalertragsteuer unterlegen haben, eine Steuerfestsetzung entsprechend § 32d Abs. 3 Satz 2 EStG beantragen. Das Schreiben der Klägerin vom 14.05.2019, mit dem diese dem Finanzamt Z die "Ersatz-Steuerbescheinigung" der X-Bank übersandte und in dem sie wörtlich ausführte, "Einspruch gegen den Abzug von Kapitalertragsteuer ... aus dem Vergleich i. S. Q ./. X ..." einzulegen und die Erstattung von Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag zu verlangen, ist als ein Antrag auf Änderung des Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr vom 03.05.2018 und auf Überprüfung des Steuereinbehalts nach § 32d Abs. 4 EStG auszulegen. Die Würdigung des FG, die Klägerin habe mit diesem Schreiben einen fristgemäßen Einspruch "wohl gegen die im Zusammenhang mit dem Einkommensteuerbescheid für 2017 vom 03.05.2018 erlassene Anrechnungsverfügung" eingelegt, bindet den Senat nach § 118 Abs. 2 FGO nicht. Die Auslegung von Willenserklärungen gehört zwar grundsätzlich zu der dem FG obliegenden Feststellung der Tatsachen. Der Bundesfinanzhof (BFH) ist als Revisionsgericht aber nicht daran gehindert, die Auslegung des FG daraufhin zu überprüfen, ob die gesetzlichen Auslegungsregeln, die Denkgesetze und die Erfahrungssätze zutreffend angewendet worden sind. Im Streitfall ist die Auslegung des Schreibens der Klägerin vom 14.05.2019 durch das FG nicht haltbar, weil das FG den rechtlichen Gehalt dieses Schreibens verkannt hat. Die Klägerin konnte ihr erkennbares Ziel, eine vollständige Anrechnung beziehungsweise Erstattung der von der X-Bank einbehaltenen Kapitalertragsteuer zu erhalten, nicht durch eine Anfechtung der Anrechnungsverfügung, sondern nur dadurch erreichen, dass die Steuerbarkeit des Nutzungsersatzes im Rahmen ihrer Veranlagung zur Einkommensteuer überprüft wurde.

bb) Indem das FA im Änderungsbescheid vom 04.09.2019 zwar die von der X-Bank einbehaltene Kapitalertragsteuer angerechnet, zugleich aber den Nutzungsersatz als steuerpflichtigen Kapitalertrag steuererhöhend angesetzt hat, hat das FA dem Änderungsbegehren der Klägerin nur teilweise entsprochen.

b) Eine weitergehende Änderung des Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr vom 04.09.2019 dahingehend, dass ein Betrag in Höhe von 5.133,36 € nicht bei den laufenden Kapitalerträgen angesetzt wird, kommt nur dann in Betracht, wenn nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 351 Abs. 1 Halbsatz 2 AO die Voraussetzungen für eine weitere Durchbrechung der Bestandskraft vorliegen.

aa) Mit § 32d Abs. 4 EStG ordnet der Gesetzgeber die Überprüfung auch des rechtsgrundlosen Steuereinbehalts verfahrensrechtlich der Veranlagung zu. Die Prüfung der Steuerbarkeit des Nutzungsersatzes hat deshalb vorrangig im Veranlagungsverfahren der Klägerin als Vergütungsgläubigerin und nicht im Kapitalertragsteueranmeldungsverfahren durch Anfechtung der Steueranmeldung der X-Bank oder Antrag auf Erlass eines Freistellungsbescheids gemäß § 155 Abs. 1 Satz 3 AO zu erfolgen. Die Erfassung des nicht steuerbaren Nutzungsersatzes in der Veranlagung der Klägerin ist wiederum gemäß § 43 Abs. 5 Satz 3 EStG Voraussetzung für die Aufhebung der Abgeltungswirkung des Steuereinbehalts und Anrechnung der Kapitalertragsteuer gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Alternative 1 EStG (vgl. BFH-Urteil vom 28.06.2022 - VII R 65/18, BFH/NV 2022, 1284, Rz 24). Mindert sich die festgesetzte Einkommensteuer, ergibt sich unter Anrechnung der Kapitalertragsteuer gemäß § 36 Abs. 4 Satz 2 EStG die von der Klägerin begehrte Erstattung.

bb) Die Überprüfung des Steuereinbehalts nach § 32d Abs. 4 EStG stellt ein grundsätzlich unbefristetes Veranlagungswahlrecht dar (BFH-Urteil vom 09.08.2016 - VIII R 27/14, BFHE 255, 51, BStBl II 2017, 821, Rz 19, m.w.N.). Die Möglichkeit, aufgrund der Antragstellung eine Änderung der festgesetzten Einkommensteuer zu erreichen, wird jedoch durch das allgemeine verfahrensrechtliche Institut der Bestandskraft und die Regelung des § 351 Abs. 1 AO begrenzt (vgl. BFH-Urteile vom 09.08.2016 - VIII R 27/14, BFHE 255, 51, BStBl II 2017, 821, Rz 19; vom 21.08.2019 - X R 16/17, BFHE 266, 163, BStBl II 2020, 99, Rz 38). Begehrt der Steuerpflichtige, wie im Streitfall, im Rahmen des Einspruchsverfahrens gegen einen Änderungsbescheid, der eine bestandskräftige Steuerfestsetzung zu seinen Gunsten geändert hat, eine weitergehende Änderung des Bescheids zu seinen Gunsten, ist dies gemäß § 351 Abs. 1 Halbsatz 2 AO nur möglich, soweit die Bestandskraft der Steuerfestsetzung aufgrund einer verfahrensrechtlichen Änderungsvorschrift (§§ 172 ff. AO) zu Gunsten des Steuerpflichtigen durchbrochen werden kann. § 32d Abs. 4 EStG enthält selbst keine Rechtsgrundlage für die Änderung einer bestandskräftigen Einkommensteuerfestsetzung zu Gunsten des Steuerpflichtigen (vgl. zu § 32d Abs. 6 EStG BFH-Urteil vom 26.09.2023 - VIII R 10/21, BFH/NV 2024, 5, Rz 15, m.w.N.; vgl. zu § 32d Abs. 4 EStG BFH-Urteil vom 21.08.2019 - X R 16/17, BFHE 266, 163, BStBl II 2020, 99, Rz 39). Das Begehren der Klägerin, eine Änderung der bestandskräftig festgesetzten Steuer über die Änderungen im Bescheid vom 04.09.2019 hinaus zu erreichen, ist vielmehr nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu beurteilen (s. unter II.3.c cc). Andere Änderungsvorschriften sind nicht einschlägig.

c) Der Senat kann anhand der vom FG getroffenen Feststellungen nicht abschließend entscheiden, ob die Voraussetzungen gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 351 Abs. 1 Halbsatz 2 AO vorliegen, um den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom 04.09.2019 dahingehend zu ändern, dass ein Betrag in Höhe von 5.133,36 € nicht bei den laufenden Kapitalerträgen angesetzt wird.

aa) Steuerbescheide sind nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.

bb) Tatsache im Sinne dieser Vorschrift ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art. Auch Kapitalerträge aus jeweils einzeln zu betrachtenden Kapitalanlagen sind Tatsachen in diesem Sinne (vgl. BFH-Urteil vom 25.03.2021 - VIII R 7/18, BFHE 272, 301, BStBl II 2023, 166, Rz 17, m.w.N.). Vor diesem Hintergrund stellt der Umstand, dass die X-Bank an die Klägerin Nutzungsersatz in Höhe von 5.133,36 € geleistet hat, eine Tatsache dar. Diese Tatsache wurde dem FA erst nachträglich, also nach abschließender Zeichnung des Eingabewertbogens für den bestandskräftigen Steuerbescheid des Streitjahrs vom 03.05.2018 (vgl. BFH-Urteil vom 09.03.2016 - X R 9/13, BFHE 253, 299, BStBl II 2016, 815, Rz 24, m.w.N.), die am 23.04.2018 erfolgte, durch die Übersendung der "Ersatz-Steuerbescheinigung" am 14.05.2019 bekannt.

Die neue Tatsache "Nutzungsersatz" wurde durch den Erlass des Änderungsbescheids vom 04.09.2019 nicht "verbraucht". Die Klägerin konnte, ohne dass dem § 351 Abs. 1 Halbsatz 2 AO entgegenstand, im Rahmen des Einspruchs gegen diesen Bescheid geltend machen, dass die Änderung zu ihren Gunsten nicht weit genug ging und der Nutzungsersatz als nicht steuerbar zu behandeln sei (vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 351 AO Rz 28). Das Einspruchsverfahren gegen den Änderungsbescheid vom 04.09.2019 beinhaltete insofern eine Fortsetzung des Änderungsverfahrens (vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 367 AO Rz 24).

cc) Die rechtlich zutreffende Behandlung des Nutzungsersatzes würde zu einer niedrigeren Steuer im Sinne von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO führen. Zwar ergibt sich aufgrund der fehlenden Steuerbarkeit des Nutzungsersatzes weder eine höhere noch eine niedrigere Einkommensteuerfestsetzung. In den Vergleich, ob der nachträglich bekannt gewordene nicht steuerbare Nutzungsersatz zu einer höheren oder niedrigeren Steuer führt, ist aber aufgrund der Verklammerung von Festsetzungs- und Erhebungsverfahren durch § 36 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG auch die durch den Steuereinbehalt gemäß § 43 Abs. 5 Satz 1 EStG abgegoltene Einkommensteuer in Höhe von 1.131,89 € einzubeziehen (vgl. hierzu BFH-Urteile vom 12.05.2015 - VIII R 14/13, BFHE 250, 64, BStBl II 2015, 806, Rz 16, 17; vom 25.03.2021 - VIII R 7/18, BFHE 272, 301, BStBl II 2023, 166, Rz 22; vom 21.08.2019 - X R 16/17, BFHE 266, 163, BStBl II 2020, 99, Rz 41). Wie unter II.3.b aa dargestellt, ist die Erfassung des Nutzungsersatzes in der Veranlagung der Klägerin notwendige Voraussetzung für die von ihr begehrte Erstattung der Kapitalertragsteuer.

dd) Der Senat kann auf der Grundlage der vom FG getroffenen Feststellungen nicht beurteilen, ob die Klägerin an der nachträglichen Mitteilung der Erzielung des Nutzungsersatzes und der Vorlage der Ersatz-Steuerbescheinigung ein grobes Verschulden trifft.

aaa) Grobes Verschulden im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO setzt Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit voraus. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn ein Steuerpflichtiger die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem, nicht entschuldbarem Maße verletzt. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist im Wesentlichen eine Tatfrage (BFH-Urteil vom 12.05.2015 - VIII R 14/13, BFHE 250, 64, BStBl II 2015, 806, Rz 20).

bbb) Das FG hat ein grobes Verschulden der Klägerin mit der Begründung verneint, diese habe die Ersatz-Steuerbescheinigung innerhalb der Einspruchsfrist des Ausgangsbescheids vorgelegt. An diese Würdigung des FG ist der Senat nicht gebunden, da sie sich nicht auf hinreichende tatsächliche Feststellungen des FG stützen kann (vgl. BFH-Urteil vom 26.08.2014 - XI R 14/12, BFH/NV 2015, 322, Rz 25).

Das FG hat im Streitfall festgestellt, dass die X-Bank der Klägerin eine Steuerbescheinigung erteilt hat. Es hat hierzu auf die Ersatz-Steuerbescheinigung als Anlage zum Schreiben der Klägerin vom 14.05.2019 Bezug genommen, die am 16.05.2019 beim FA einging. Am 16.05.2019 war die Monatsfrist für die Einspruchseinlegung gegen den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom 03.05.2018 aber bereits abgelaufen. Fehler der Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheids, die zu einer Verlängerung der Einspruchsfrist auf ein Jahr hätten führen können, hat das FG nicht festgestellt. Im Übrigen ging die Ersatz-Steuerbescheinigung erst am 16.05.2019 und damit mehr als ein Jahr nach Ausfertigung des Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr bei dem FA ein.

ccc) Weitere Feststellungen dazu, ob und wann der Klägerin eine Original-Steuerbescheinigung vorlag, zu welchem Zeitpunkt die Ersatz-Steuerbescheinigung ausgestellt wurde und ob die Klägerin eine Überprüfung des Kapitalertragsteuereinbehalts nach § 32d Abs. 4 EStG bereits mit der Abgabe der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr oder spätestens innerhalb der Einspruchsfrist hätte beantragen können und aus welchen Gründen sie dies nicht getan hat, hat das FG nicht getroffen.

4. Der Senat weist für den zweiten Rechtsgang ergänzend auf Folgendes hin:

a) Das FG wird sich im zweiten Rechtsgang erneut mit der Frage zu befassen haben, ob der Klägerin hinsichtlich der nachträglichen Mitteilung der Erzielung des Nutzungsersatzes und der darauf einbehaltenen Kapitalertragsteuer grobes Verschulden zur Last fällt.

b) Sollte der Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom 04.09.2019 zu Gunsten der Klägerin änderbar sein, würde die Rückgewähr der geleisteten Vorfälligkeitsentschädigung in Höhe von 5.113,09 € nicht zu gemäß § 177 AO saldierbaren steuerbaren Einnahmen der Klägerin führen, denn die Rückzahlung von Aufwendungen, die außerhalb der Erwerbssphäre angefallen sind, ist ihrerseits nicht durch die Einkünfteerzielung veranlasst (vgl. BFH-Urteile vom 29.09.2022 - VI R 34/20, BFHE 278, 319, BStBl II 2023, 142; vom 19.07.2022 - IX R 18/20, BFHE 278, 85, BStBl II 2023, 173; vom 07.11.2023 - VIII R 21/21, BFH/NV 2024, 503, Rz 17). So liegt der Fall, da der Zweck der ursprünglichen Darlehensaufnahme in der Finanzierung einer zu eigenen Wohnzwecken genutzten Immobilie der Klägerin bestand und die Zinszahlungen dementsprechend gemäß § 12 Nr. 1 EStG nicht steuermindernd zu berücksichtigen waren.