BFH: Verfahrensmangel aufgrund einer unterlassenen Übersendung einer Anlage zur Klagebegründung
Finanzgerichtsordnung
BFH, Beschluss vom 01.02.2022, VII B 135/21
Verfahrensgang: FG Hamburg, 4 K 11/20 vom 04.08.2021
Leitsatz:
NV: Unterlässt es das Finanzgericht (FG), dem Beklagten eine von der Klägerin als Anlage zur Klagebegründung vorgelegte und für die Entscheidung des FG maßgebliche Unterlage zu übersenden, liegt darin eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Beklagten im Sinne von § 115 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 96 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung.
Gründe:
I. Die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) meldete beim Beklagten und Beschwerdeführer (Hauptzollamt --HZA--) für den Monat April 2017 Energiesteuer an (...), die am 12.06.2017 fällig war. Die Klägerin entrichtete die fälligen Energiesteuerbeträge am 29.06.2017 und zahlte die bis zu diesem Zeitpunkt verwirkten Säumniszuschläge in Höhe von ... € am 14.08.2017.
Den beantragten Erlass der Säumniszuschläge aus Billigkeitsgründen lehnte das HZA mit Bescheid vom 23.11.2017 ab. Das Einspruchsverfahren blieb erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) hob den Bescheid vom 23.11.2017 und die Einspruchsentscheidung vom 09.01.2020 auf und verpflichtete das HZA, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden. Im Übrigen wies es die Klage ab. Nach Auffassung des FG war die Entscheidung des HZA, die Säumniszuschläge nicht zu erlassen, ermessensfehlerhaft, weil es seine Ermessensentscheidung nicht anhand eines einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts getroffen habe. Ob eine Person als pünktlicher oder nicht pünktlicher Steuerzahler zu betrachten sei, beurteile sich nicht anhand einer einzelnen Steuerart. Vielmehr sei dies im Rahmen einer Gesamtschau zu prüfen, bei der alle für das Verhältnis zwischen dem Steuerzahler und der Finanz- bzw. Zollverwaltung relevanten Umstände heranzuziehen seien. Das HZA hätte sich daher nicht darauf beschränken dürfen, das Zahlungsverhalten der Klägerin in Bezug auf die pünktliche Entrichtung der Energiesteuer im Zeitraum 11/2016 bis 11/2017 zu untersuchen, sondern hätte auch prüfen müssen, ob die Klägerin in Bezug auf andere Steuerarten als eine pünktliche oder unpünktliche Steuerzahlerin anzusehen sei. Hätte das HZA diese Prüfung vorgenommen, hätte es vor dem Hintergrund der vom Finanzamt A ausgestellten Bescheinigungen feststellen müssen, dass der Klägerin seit 2013 bis 2017 bescheinigt worden sei, dass keine fälligen Steuerrückstände bestünden, keine Steuerbeträge gestundet worden seien und das Zahlungsverhalten in den jeweils letzten zwölf Monaten immer pünktlich gewesen sei. Hinzu komme, dass der Fälligkeitstermin nur geringfügig überschritten worden sei, die Überschreitung der Schonfrist letztlich auf einer Verkettung unglücklicher Umstände beruhe und die Klägerin die Zahlung unverzüglich nachgeholt habe.
Das HZA begründet seine Nichtzulassungsbeschwerde mit der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--), der Erforderlichkeit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) und mit einem Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). U.a. bringt das HZA vor, sein Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt worden, weil das FG es versäumt habe, ihm neben der Klagebegründung der Klägerin auch die als Anlage beigefügten Bescheinigungen des Finanzamts A zu übermitteln. Da die Klägerin diese Unterlagen im Schriftsatz nicht als Anlagen, sondern schlicht als "Beweis 2: Bescheinigungen in Steuersachen 2013-2020" bezeichnet habe, habe es keine Veranlassung gehabt, von fehlenden Anlagen auszugehen. Erst nach Zustellung des nunmehr angegriffenen Urteils habe es davon erfahren, dass es sich dabei um nicht übersandte Anlagen gehandelt habe. Es habe auch erst zu diesem Zeitpunkt vom Inhalt der Dokumente und von der ihnen vom FG beigemessenen Entscheidungserheblichkeit Kenntnis erlangt. Das FG habe ihm diese Dokumente auf Nachfrage erst mit Schreiben vom 09.09.2021 übermittelt und die unterbliebene Zurverfügungstellung als Gerichtsversehen bezeichnet. Es habe somit keine Gelegenheit gehabt, im Rahmen des rechtlichen Gehörs auf die Bescheinigungen des Finanzamts A einzugehen und darauf hinzuweisen, dass sie im Verwaltungsverfahren nicht vorgelegen hätten und daher in die gerichtliche Überprüfung des Verwaltungsermessens keinen Eingang hätten finden dürfen. Es hätte außerdem bei Kenntnis dieser Unterlagen nicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Insoweit habe das FG eine Überraschungsentscheidung getroffen, weil das FG sein Urteil auf einen ihm --dem HZA-- nicht bekannten Umstand gestützt habe.
II. Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 116 Abs. 6 FGO). Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, weil das FG das rechtliche Gehör des HZA durch die unterlassene Übersendung der als Anlage zur Klagebegründung der Klägerin beigefügten Bescheinigungen des Finanzamts A verletzt hat.
1. Nach § 96 Abs. 2 FGO darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Korrespondierend umfasst der Anspruch auf rechtliches Gehör das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und ggf. Beweisergebnissen zu äußern, sowie in rechtlicher Hinsicht alles vorzutragen, was sie für wesentlich halten. Daher ist das FG verpflichtet, entscheidungserhebliche Fakten und Unterlagen nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern diese auch nach § 77 Abs. 1 Satz 4 FGO dem jeweils anderen Beteiligten von Amts wegen zur Kenntnis zu geben. Die unterlassene Übersendung oder ggf. Übergabe eines entsprechenden Schriftsatzes in der mündlichen Verhandlung verletzt daher grundsätzlich das rechtliche Gehör, jedenfalls dann, wenn dieser für die Entscheidung des FG erheblich gewesen sein kann (vgl. BFH-Beschluss vom 08.05.2017 - X B 150/16, BFH/NV 2017, 1185).
Im Streitfall hat das FG den Anspruch des HZA auf rechtliches Gehör verletzt, weil es diesem für die Vorentscheidung maßgebliche Unterlagen u.a. des Finanzamts A nicht zur Kenntnis übersandt hatte mit der Folge, dass das HZA sich dazu nicht hat äußern können.
Die Klägerin legte dem FG als Anlage zu ihrer Klagebegründung vom 30.04.2020 mehrere Bescheinigungen in Steuersachen des Finanzamts A vor, in denen Angaben zum Zahlungsverhalten der Klägerin im Hinblick auf verschiedene Steuerarten enthalten waren. Diesen Schriftsatz übersandte die Geschäftsstelle des FG dem HZA mit Schreiben vom 06.05.2020 zur Kenntnis, wobei die Übersendung der Anlagen jedoch unterblieb. Dass die Klägerin ihrer Klagebegründung Anlagen beigefügt hatte, ist diesem Schriftsatz nicht zu entnehmen, weil die Anlagen nicht als solche bezeichnet, sondern als "Beweise" angeboten wurden. Erst nach Zustellung der Vorentscheidung teilte das FG dem HZA auf Nachfrage mit, dass die Anlagen aufgrund eines Gerichtsversehens bei der Übersendung der Klagebegründung vergessen worden seien.
Die Bescheinigungen des Finanzamts A waren für die Vorentscheidung erheblich, weil das FG die Ermessensentscheidung des HZA insbesondere deshalb beanstandet hat, weil es diese Bescheinigungen nicht berücksichtigt habe und deshalb die Schlussfolgerung des HZA, die Klägerin sei nicht als eine bisher pünktliche Steuerzahlerin zu betrachten, für rechtlich nicht vertretbar hielt (...).
2. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO abgesehen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.