BFH: Wirksame Bekanntgabe eines Steuerbescheids an einen Bevollmächtigten trotz Widerrufs der Vollmacht
Abgabenordnung
BFH, Urteil vom 11.06.2024, IX R 30/23
Verfahrensgang: FG Sachsen, 6 K 709/22 vom 22.11.2022
Leitsatz:
NV: Die wirksame Bekanntgabe eines an einen Bevollmächtigten adressierten schriftlichen Verwaltungsakts, der im Inland durch die Post übermittelt wird und diesem tatsächlich zugeht, ist nicht davon abhängig, dass die Außenvollmacht des Bevollmächtigten im Bekanntgabezeitpunkt noch besteht (Anschluss an Urteil des Bundesfinanzhofs vom 08.02.2024 - VI R 25/21, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt).
Gründe:
I. Die Beteiligten streiten um die wirksame Bekanntgabe von Einkommensteuerbescheiden.
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) wird beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger wurde zuletzt mit bestandskräftigen Einkommensteuerbescheiden vom 27.02.2020 für die Jahre 2014 und 2015 veranlagt. Anlässlich zweier Mitteilungen über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für 2014 und 2015 vom 16.12.2020 erließ das FA am 21.12.2021 (Dienstag) geänderte Einkommensteuerbescheide für 2014 und 2015. Diese führten zu einer Nachzahlung von Einkommensteuer.
Der Kläger hatte für seine Einkommensteuerveranlagung die Steuerberaterkanzlei ... (Kanzlei) bevollmächtigt. Die Vollmachtserteilung war seitens der Kanzlei am 25.03.2021 in die elektronische Vollmachtsdatenbank bei der örtlichen Steuerberaterkammer eingestellt und anschließend vollautomatisiert in das Steuerkonto des Klägers übernommen worden. Die Bevollmächtigung umfasste auch die Entgegennahme von Steuerbescheiden. Die Bekanntgabe der beiden Änderungsbescheide erfolgte an die Kanzlei. Dort gingen die Bescheide am 22.12.2021 (Mittwoch) ein.
Zwischenzeitlich hatte der Kläger der Kanzlei das Mandat entzogen. Die Kanzlei löschte die Vollmacht in der Vollmachtsdatenbank am 22.12.2021 und leitete den Widerruf an das FA weiter. Die Information über den Widerruf der Bevollmächtigung ging beim FA am 23.12.2021 (Donnerstag) ein. Am 27.12.2021 wurde die Bevollmächtigung im Steuerkonto des Klägers gelöscht. Die Änderungsbescheide wurden von der Kanzlei an den Kläger per einfachem Brief weitergeleitet.
Der Kläger erhob am 19.07.2022 beim Finanzgericht (FG) eine "Restitutionsklage". Der Kläger brachte vor, die Einkommensteuerbescheide 2014 und 2015 vom 21.12.2021 nie erhalten zu haben.
Die vom Kläger erhobene Klage hatte Erfolg. Das FG kam zu dem Ergebnis, die Änderungsbescheide vom 21.12.2021 für die Jahre 2014 und 2015 seien nicht wirksam bekanntgegeben worden. Dem FA sei vor der Bekanntgabe der Widerruf der Vollmacht mitgeteilt worden. Ein schriftlicher Verwaltungsakt gelte bei Übermittlung im Inland am dritten Tag nach Aufgabe der Post als bekannt gegeben. Existenz und Wirksamkeit des Verwaltungsakts träten mithin erst mit Ablauf der Drei-Tages-Frist ein. Das Bekanntgabedatum der Einkommensteuerbescheide für 2014 und 2015 falle damit auf den 24.12.2021. Dem FA sei aber der Widerruf der Bevollmächtigung bereits einen Tag zuvor am 23.12.2021 mitgeteilt worden. Am 24.12.2021 habe daher keine wirksame Bekanntgabe an die Kanzlei mehr erfolgen können. Eine Heilung des Bekanntgabemangels durch Weiterleitung der Bescheide an den Kläger sei nicht eingetreten.
Mit seiner Revision trägt das FA vor: Das FG habe § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) i.V.m. § 124 AO unrichtig angewandt und damit Bundesrecht verletzt. Einer wirksamen Bekanntgabe an einen Bevollmächtigten stehe nicht entgegen, wenn das FA nach Aufgabe zur Post Kenntnis vom Widerruf der Empfangsvollmacht erlange. Bis zum Zugang des Widerrufs beim FA blieben Verfahrenshandlungen des FA gegenüber dem bisherigen Bevollmächtigten wirksam. Dies gelte auch dann, wenn der Widerruf der Empfangsvollmacht innerhalb der Drei-Tages-Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO beim FA eingehe. Im Streitfall sei die Empfangsbevollmächtigung der Kanzlei im Zeitpunkt der Übersendung der Einkommensteuerbescheide nicht widerrufen gewesen. Die Empfangsvollmacht sei auch am Tag des tatsächlichen Zugangs, dem 22.12.2021, gegenüber dem FA nicht widerrufen gewesen. Nach den tatsächlichen Feststellungen des FG sei der Zugang des Widerrufs der Vollmacht beim FA erst am 23.12.2012 erfolgt. Bei der Bekanntgabe habe sich das FA nach § 80 Abs. 5 Satz 4 i.V.m. § 122 Abs. 1 Satz 4 AO an den Empfangsbevollmächtigten zu wenden. Das Auswahlermessen sei eingeschränkt. Besondere Umstände für eine ausnahmsweise Auswahl des Klägers als Empfänger der Steuerbescheide seien nicht erkennbar gewesen. Die Bekanntgabefiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO vereitele auch nicht nachträglich den tatsächlich vor dem Widerruf der Empfangsvollmacht erfolgten Zugang. Dies folge aus einer wörtlichen, einer systematischen sowie einer an Sinn und Zweck orientierten Auslegung der Vorschrift.
Das FA beantragt,
das Urteil des FG vom 22.11.2022 - 6 K 709/22 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.
II. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angegriffenen FG-Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Denn das FG hat in der Sache rechtsfehlerhaft eine wirksame Bekanntgabe der Einkommensteuerbescheide 2014 und 2015 jeweils mit Bescheiddatum 21.12.2021 verneint.
1. Die Klage war als Feststellungsklage zulässig.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist eine Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit eines Verwaltungsakts wegen fehlender oder mangelhafter Bekanntgabe im Sinne von § 124 Abs. 1 Satz 1 AO zur Beseitigung des Rechtsscheins eines ordnungsgemäß bekannt gegebenen Verwaltungsakts statthaft. Die Klage richtet sich auf die Feststellung des Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses im Sinne von § 41 Abs. 1 Halbsatz 1 Alternative 1 FGO (vgl. BFH-Beschluss vom 25.02.1999 - IV R 36/98, BFH/NV 1999, 1117, unter 2.; Steinhauff in Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, § 41 FGO Rz 69). Denn mit der Klage wird nicht die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts (§ 41 Abs. 1 Halbsatz 1 Alternative 2 FGO), sondern die Feststellung begehrt, dass der Verwaltungsakt nicht wirksam geworden und daher die beabsichtigte Regelung nicht erreicht habe (vgl. dazu v. Beckerath in Gosch, § 41 FGO Rz 56). Ein Vorverfahren ist nicht erforderlich.
b) Der Zulässigkeit der Klage steht auch nicht die Subsidiarität der Feststellungsklage gemäß § 41 Abs. 2 FGO entgegen. Gemäß § 41 Abs. 2 Satz 1 FGO kann eine Feststellung nicht begehrt werden, soweit der Kläger seine Rechte durch eine Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können. Dies gilt aufgrund der Rückausnahme in § 41 Abs. 2 Satz 2 FGO nicht, wenn die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt wird. Dies ist entsprechend auf die vorliegende Klage, die auf die Feststellung der Unwirksamkeit der Bescheide mangels Bekanntgabe gerichtet ist, anzuwenden (vgl. BFH-Urteil vom 09.12.2009 - X R 54/06, BFHE 228, 111, BStBl II 2010, 732, Rz 46; Krumm in Tipke/Kruse, § 41 FGO Rz 29).
2. Nach § 122 Abs. 1 Satz 1 AO ist ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird; er kann aber gemäß Satz 3 der Vorschrift auch gegenüber einem Bevollmächtigten bekannt gegeben werden. § 122 Abs. 1 Satz 3 AO räumt der Finanzbehörde mithin ein Ermessen ein, ob sie den Verwaltungsakt an den Beteiligten oder an dessen Bevollmächtigten bekannt gibt.
Wird ein Steuerbescheid durch die Post übermittelt (§ 122 Abs. 2 AO), gilt er gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Der Bekanntgabevermutung gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO steht nicht entgegen, dass das FA nach der Aufgabe des Verwaltungsakts zur Post von einem Widerruf der Vollmacht durch den Steuerpflichtigen Kenntnis erlangt hat (vgl. BFH-Urteil vom 08.02.2024 - VI R 25/21, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, Rz 24 für eine Einspruchsentscheidung).
Nach § 80 Abs. 1 Satz 3 AO wird der Widerruf der Vollmacht der Finanzbehörde gegenüber (erst) wirksam, wenn er ihr zugeht. Bis zu diesem Zeitpunkt kann das FA noch wirksam Verfahrenshandlungen im Sinne von § 80 Abs. 1 Satz 2 AO gegenüber dem Bevollmächtigten vornehmen (vgl. BFH-Urteile vom 14.11.2012 - II R 14/11, Rz 13 und vom 08.02.2024 - VI R 25/21, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, Rz 26). Daher ist die wirksame Bekanntgabe eines an einen Bevollmächtigten adressierten Verwaltungsakts, der durch die Post übermittelt wird, nicht davon abhängig, dass die Vollmacht auch bei Ablauf der Frist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO noch besteht (vgl. BFH-Urteil vom 08.02.2024 - VI R 25/21, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, Rz 26 ff.; ebenso FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30.08.2000 - 2 K 779/97 E, Entscheidungen der Finanzgerichte 2001, 154; Wernsmann in HHSp, § 80 AO Rz 169; Burbaum/Uphues, Deutsches Steuerrecht kurzgefaßt 2022, 56).
Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO, der die Bekanntgabe am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post ohne weitere tatbestandliche Voraussetzungen vermutet, es sei denn, der Verwaltungsakt ist nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen (vgl. BFH-Urteil vom 08.02.2024 - VI R 25/21, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, Rz 27).
Gestützt wird dies weiter durch den Sinn und Zweck des § 80 Abs. 1 Satz 3 AO. Diese Regelung soll nach dem Willen des Gesetzesgebers der Rechtssicherheit des FA dienen (s. BTDrucks VI/1982, S. 131), damit dieses nicht im Nachhinein von dem Umstand einer nicht mehr existierenden Vollmacht überrascht wird. Die Behörde soll sich insoweit auf eine erteilte Vollmacht verlassen können, bis ihr der Widerruf der Vollmacht zugeht. Maßgeblich ist dabei der Zeitpunkt der letzten Behördenhandlung, hier also der Zeitpunkt der Aufgabe der Steuerbescheide zur Post (vgl. BFH-Urteil vom 08.02.2024 - VI R 25/21, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, Rz 28; Wernsmann in HHSp, § 80 AO Rz 169). Liegt zu diesem Zeitpunkt eine Vollmacht vor und geht der Verwaltungsakt dem Bevollmächtigten auch zu, liegt eine wirksame Bekanntgabe vor (vgl. BFH-Urteil vom 08.02.2024 - VI R 25/21, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, Rz 28, m.w.N.).
Für diese Auslegung spricht auch, dass für die gerichtliche Überprüfung einer Ermessensentscheidung --hier § 122 Abs. 1 Satz 3 AO-- stets auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungshandlung abzustellen ist. Danach eintretende Umstände sind für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ermessensausübung daher regelmäßig nicht mehr heranzuziehen (BFH-Urteil vom 08.02.2024 - VI R 25/21, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, Rz 29, m.w.N.).
3. Gemessen an diesen Grundsätzen hat das FG zu Unrecht die wirksame Bekanntgabe der Einkommensteuerbescheide 2014 und 2015 verneint. Die Einkommensteuerbescheide gelten der Kanzlei als Bekanntgabeadressatin am 24.12.2021 wirksam als bekanntgegeben (§ 122 Abs. 1 Satz 3 AO). Die Bescheide sind damit gegenüber dem Kläger als Inhaltsadressaten wirksam geworden (§ 124 Abs. 1 AO).
Fehlerhaft ist das FG davon ausgegangen, es spiele keine Rolle, dass die Kanzlei im Zeitpunkt der Absendung der geänderten Steuerbescheide noch Bevollmächtigte des Klägers gewesen sei. Die Einkommensteuerbescheide sind nach den Feststellungen des FG am 21.12.2021 zur Post gegeben worden. Der Kläger hatte der Kanzlei im Zeitpunkt der Absendung am 21.12.2021 noch die Empfangsvollmacht für Steuerbescheide erteilt. Das FA hat damit das ihm gemäß § 122 Abs. 1 Satz 3 AO eingeräumte Ermessen, die geänderten Einkommensteuerbescheide 2014 und 2015 vom 21.12.2021 der Kanzlei als der Bevollmächtigten des Klägers anstatt dem Kläger selbst bekannt zu geben, fehlerfrei ausgeübt. Ein Ermessensfehler ist nach den Feststellungen des FG nicht erkennbar. Die beiden Einkommensteuerbescheide gelten daher der Kanzlei als am 24.12.2021 bekanntgegeben (§ 108 Abs. 1 und § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO). Da der Heiligabend ein Werktag ist, kommt die Regelung des § 108 Abs. 3 AO nicht zur Anwendung (vgl. Wernsmann in HHSp, § 108 AO Rz 127, m.w.N.).
4. Die Entscheidung des FG ist daher aufzuheben. Der Senat entscheidet in der Sache selbst (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO) und weist die Klage ab, da sie unbegründet ist.