BFH zum Vorliegen einer Überraschungsentscheidung
Finanzgerichtsordnung
BFH, Beschluss vom 10.01.2024, IX B 9/23
Verfahrensgang: FG Hamburg, 1 K 114/19 vom 10.01.2023
Leitsatz:
NV: Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Finanzgericht sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste.
Gründe:
I. Die Beteiligten streiten um die Zurechnung von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung.
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) war im Streitjahr 2015 Eigentümerin des Objekts A-Straße in Z-Stadt. Die Klägerin nutzte das Objekt nicht zu eigenen Wohnzwecken. Auf einer Teilfläche des Objekts wohnte der geschiedene Ehemann der Klägerin (Beigeladener). Die übrige Wohnfläche wurde vermietet. Bei den Vermietungen handelte der Beigeladene selbst als Vermieter und vereinnahmte die Mietzahlungen.
In ihrer Steuererklärung für das Streitjahr erklärte die Klägerin --wie auch in den Vorjahren-- Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung für das Objekt A-Straße. Im Rahmen der Veranlagung kam es zum Streit mit dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) unter anderem darüber, ob die Mieteinkünfte von der Klägerin oder dem Beigeladenen zu versteuern seien. Im Einkommensteuerbescheid 2015 vom 06.04.2017 setzte das FA bei der Klägerin Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 15.114 ¤ an. Die Klägerin legte dagegen Einspruch ein und wandte sich gegen die Zurechnung der Vermietungseinkünfte. Das FA hielt im Einspruchsverfahren daran fest, dass der Klägerin als Eigentümerin die Einkünfte aus dem Vermietungsobjekt zuzurechnen seien. Dies gelte auch, wenn ihr die Einnahmen vom Beigeladenen vorenthalten worden seien. Zudem kündigte das FA aufgrund nicht anzuerkennender Werbungskosten eine Verböserung an. Der Einspruch wurde anschließend als unbegründet zurückgewiesen. Die der Klägerin zugerechneten Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung wurden mit 26.041 ¤ angesetzt.
Die Klägerin erhob gegen die Einspruchsentscheidung Klage und hielt an ihrem bisherigen Vorbringen fest. Der Beigeladene habe die Vermietung als Eigengeschäft betrieben. Es sei keine Verwaltung in ihrem Auftrag durch den Beigeladenen erfolgt.
Am 21.09.2022 wurde der Beigeladene vom Finanzgericht (FG) durch Beschluss beigeladen.
In der für den 10.01.2023 geladenen mündlichen Verhandlung erschien die Klägerin nicht. Die Klage wurde mit Urteil vom 10.01.2023 - 1 K 114/19 als unbegründet abgewiesen. Das FG führte aus, die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 26.041 ¤ seien zu Recht der Klägerin zugerechnet worden. Einkünfte seien demjenigen zuzurechnen, der sie "erziele". Der Beigeladene habe zwar bei Abschluss und Durchführung der Mietverträge im eigenen Namen gehandelt. Allerdings seien die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung der Klägerin aufgrund eines Treuhandverhältnisses zwischen ihr und dem Beigeladenen zuzurechnen. Nach umfassender Würdigung der Umstände des Einzelfalls sei das FG davon überzeugt, dass im Hinblick auf das Vermietungsobjekt A-Straße ein Treuhandverhältnis bestanden habe. Diese Annahme werde dadurch unterstützt, dass die Klägerin über Jahre hinweg die Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung aus diesem Objekt erklärt habe und dies nunmehr erstmals für das Streitjahr in Abrede stelle. Diese Änderung des jahrelangen Erklärungsverhaltens überzeuge nicht.
Mit ihrer Beschwerde begehrt die Klägerin unter anderem die Zulassung der Revision wegen Verfahrensmängeln. Es liege mit der Annahme eines Treuhandverhältnisses eine Überraschungsentscheidung vor. Bei einem rechtzeitigen Hinweis hätte sie neben weiteren Äußerungen auf die Darlegungs- und Beweislast hingewiesen und zudem einen Antrag auf Vernehmung eines Zeugen gestellt. Auch bei der Berücksichtigung der Werbungskosten sei es zu einem überraschenden Ergebnis gekommen. Weiter sei die Pflicht zur Sachaufklärung vom FG verletzt und die Entscheidung nicht am Schluss der Sitzung verkündet worden.
Das FA ist der Beschwerde entgegengetreten.
II. Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
1. Das FG hat ein Überraschungsurteil erlassen und damit den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt.
a) Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten oder nicht bekannten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn ein entscheidungserheblicher Umstand vom FG erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht wird (z.B. Senatsbeschlüsse vom 23.02.2017 - IX B 2/17, Rz 15 und vom 12.01.2023 - IX B 29/22, Rz 2). Zwar muss ein --zumal durch einen Steuerberater sachkundig vertretener-- Verfahrensbeteiligter, auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19.05.1992 - 1 BvR 986/91, BVerfGE 86, 133, unter C.III.1.a; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 119 Rz 15, m.w.N.). Er muss aber nicht damit rechnen, dass seine Klage aus einem Grund abgewiesen wird, den weder die Beteiligten noch das Gericht zuvor in das Verfahren eingeführt haben.
Im Falle des Ausbleibens eines Beteiligten hat das FG nach pflichtgemäßem Ermessen zudem darüber zu befinden, ob es gleichwohl in der Sache entscheidet oder den Termin vertagt. Es ist im Rahmen seiner Ermessensentscheidung insbesondere dann zur Vertagung verpflichtet, wenn die Entscheidung aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte erfolgen könnte, zu denen den Beteiligten bisher kein rechtliches Gehör gewährt worden war (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 19.05.2020 - VIII B 114/19, Rz 6).
b) So liegt der Streitfall. Zwischen den Beteiligten war zwar bis zur Entscheidung des FG streitig, ob der Klägerin die Vermietungseinkünfte aus dem Objekt A-Straße zuzurechnen sind. Den Gesichtspunkt, dass die Zurechnung aufgrund eines steuerlich anzuerkennenden Treuhandverhältnisses erfolgt, hat das FG jedoch erstmals im Urteil vom 10.01.2023 - 1 K 114/19 in das Verfahren eingeführt. Weder im Veranlagungs- und Einspruchsverfahren noch im Rahmen des Schriftsatzaustauschs während des finanzgerichtlichen Verfahrens ist dieser Gesichtspunkt angesprochen worden. Ein wegen des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs und der prozessualen Fürsorgepflicht gebotener Hinweis des FG dazu war nicht erfolgt. Auch dem Protokoll der Sitzung vom 10.01.2023 lässt sich kein Hinweis entnehmen, dass dieser Punkt in der mündlichen Verhandlung angesprochen worden ist.
Die Klägerin hat ihr Rügerecht nicht durch Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge (in der Vorinstanz) verloren, da in der bloßen Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung kein Verzicht auf die Einhaltung der Verfahrensvorschriften im Sinne von § 295 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 FGO liegt (vgl. u.a. BFH-Beschlüsse vom 28.07.1998 - VI B 76/98, BFH/NV 1999, 200, unter 1.a, m.w.N. und vom 10.02.2015 - V B 87/14, Rz 13). Denn auch wenn die Klägerin an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hätte, hätte sie erst aus dem Urteil erfahren, dass das FG seine Entscheidung auf einen bisher nicht erörterten Umstand gestützt hat. Stattdessen war das FG zur Vertagung der mündlichen Verhandlung verpflichtet, da es die Entscheidung auf rechtliche Gesichtspunkte gestützt hat, zu denen der Klägerin zuvor kein rechtliches Gehör gewährt worden war (vgl. BFH-Beschluss vom 19.05.2020 - VIII B 114/19, Rz 12).
2. Auf die übrigen, von der Klägerin gerügten Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) kommt es daher nicht mehr entscheidungserheblich an. Von einer weiteren Begründung wird nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO, der auch für den Beschluss nach § 116 Abs. 6 FGO gilt, abgesehen.
3. Der Senat hält es für sachgerecht, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und der Rechtsstreit insoweit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Dabei wird das FG unter Berücksichtigung des Vortrags der Beteiligten zu prüfen haben, ob und in welchem Umfang das von ihm angenommene Treuhandverhältnis den Anforderungen der Rechtsprechung (vgl. u.a. Senatsurteile vom 12.07.2016 - IX R 21/15, Rz 23; vom 08.11.2017 - IX R 25/16, Rz 16 und vom 15.11.2022 - IX R 4/20, BFHE 278, 519, BStBl II 2023, 389, Rz 22, jeweils m.w.N.) sowie den Anforderungen an Verträge zwischen Angehörigen (vgl. § 15 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung) genügt.