BGH: Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung

Verfahrensrecht

BGH, Beschluss vom 24.10.2023, VI ZB 53/22
Verfahrensgang: LG Berlin, 42 O 243/19 vom 16.02.2022
KG, 22 U 28/22 vom 30.06.2022

Leitsatz:

Ein Rechtsanwalt hat durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür Sorge zu tragen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört die allgemeine Anordnung, bei Prozesshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren. Die Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung. Sie kann die Fristwahrung in der Regel selbst dann gewährleisten, wenn die Eintragung einer Rechtsmittelbegründungsfrist versehentlich unterblieben ist.

Gründe:

I. Das Landgericht hat die Klage durch Versäumnisurteil abgewiesen und dieses nach Einspruch aufrechterhalten. Die Klägerin hat gegen das ihr am 17. Februar 2022 zugestellte Urteil fristgerecht Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 19. Mai 2022 hat die Klägerin die Berufung begründet und zugleich die Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist beantragt.

Zur Begründung hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin vorgetragen, die Säumnis beruhe auf einem Versehen seiner Angestellten. Diese habe gemäß erteilter Weisung zwar die Berufungsfrist in den Fristenkalender eingetragen, allerdings aus im Nachhinein nicht mehr eruierbaren Gründen nicht auch die Berufungsbegründungsfrist, obwohl beide Fristen als "notiert" und damit als im Fristenkalender eingetragen vermerkt worden seien. Das Empfangsbekenntnis werde von ihm mit Datum versehen und unterzeichnet. Zugleich würden die Fristen notiert und die Akte zwecks Notierung der Fristen im Fristenkalender an die Angestellte übergeben. Die Fristen würden sodann von der Angestellten - nach erneuter Prüfung der Richtigkeit der notierten Frist - einzeln im Fristenkalender eingetragen und hinter dem Datum des jeweiligen Fristablaufs mit einem entsprechenden Vermerk "notiert" mit dem Kürzel der Angestellten versehen. Die Akte werde sodann wieder an ihn gegeben, um zu kontrollieren, ob der Erledigungsvermerk "notiert" aufgebracht worden sei. Im vorliegenden Fall sei der Posteingang über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) erfolgt und sei somit von ihm direkt bearbeitet worden. Nach Kenntnisnahme des erstinstanzlichen Urteils seien durch ihn die Fristen für die Berufung und die Berufungsbegründung notiert worden. Die Angestellte habe dann beide Fristen in den Fristenkalender eintragen sollen. Bei Einlegung der Berufung habe er sich noch einmal vergewissert, dass hinter beiden notierten Fristen ein Eintragungsvermerk aufgebracht worden sei. Er sei deshalb davon ausgegangen, dass auch die Berufungsbegründungsfrist ordnungsgemäß eingetragen worden sei. In der beigefügten eidesstattlichen Versicherung der Angestellten ist ausgeführt, es sei ihr nicht erklärlich, aus welchem Grunde sie nicht auch die Berufungsbegründungsfrist im Fristenkalender eingetragen habe.

Das Berufungsgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Klägerin.

II. Die statthafte (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO) Rechtsbeschwerde ist unzulässig. Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Der angefochtene Beschluss verletzt die Klägerin nicht in ihrem Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip).

1. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die Fristversäumung sei dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin als Organisationsverschulden vorzuwerfen. Es sei anerkannt, dass ein Rechtsanwalt nicht nur Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist zu notieren habe, sondern auch eine Vorfrist. Dass es im Büro des Prozessbevollmächtigten der Klägerin Anordnungen bezüglich einer solchen Vorfrist gebe, sei weder seinen Ausführungen in der Berufungsbegründung zu entnehmen, die zugleich den Wiedereinsetzungsantrag enthalte, noch der eidesstattlichen Versicherung seiner Angestellten. Dem könne auch nicht entgegengehalten werden, dass diese nicht nur die Eintragung der Begründungsfrist, sondern auch die einer Vorfrist vergessen hätte. Denn dies stehe nicht fest. Zum einen sei die Eintragung der Berufungsfrist erfolgt, zum anderen sei unklar, warum die Eintragung der Begründungsfrist nicht erfolgt sei. Dann aber sei nicht gesichert, dass auch eine Vorfrist nicht eingetragen worden wäre. Dies gehe zu Lasten der Klägerin. Wiedereinsetzung sei nur zu gewähren, wenn feststehe, dass es an einem zurechenbaren Verschulden fehle.

2. Diese Erwägungen des Berufungsgerichts sind nicht zu beanstanden.

a) Hat eine Partei die Berufungsbegründungsfrist versäumt, ist ihr nach § 233 Satz 1 ZPO auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn sie ohne ihr Verschulden an der Einhaltung der Frist verhindert war. Das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten wird der Partei zugerechnet (§ 85 Abs. 2 ZPO), das Verschulden sonstiger Dritter hingegen nicht. Fehler des Büropersonals hindern eine Wiedereinsetzung deshalb nicht, solange den Prozessbevollmächtigten kein eigenes Verschulden etwa in Form eines Organisations- oder Aufsichtsverschuldens trifft. Die Partei hat einen Verfahrensablauf vorzutragen und glaubhaft zu machen (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO), der ein Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist zweifelsfrei ausschließt; verbleibt die Möglichkeit, dass die Einhaltung der Frist durch ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Partei versäumt worden ist, ist der Antrag auf Wiedereinsetzung unbegründet (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. September 2023 - IV ZB 4/23, juris Rn. 11; vom 26. Januar 2023 - I ZB 42/22, NJW 2023, 1969 Rn. 13 mwN).

b) So liegt es hier. Nach den zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags vorgetragenen Umständen ist nicht ausgeschlossen, dass das Fristversäumnis auf einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Klägerin beruht. Die Klägerin hat nicht dargelegt, dass ihr Prozessbevollmächtigter die Notierung von Vorfristen angeordnet hatte.

aa) Ein Rechtsanwalt darf zwar die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen. Er hat aber durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür Sorge zu tragen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung die allgemeine Anordnung, bei Prozesshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren. Die Vorfrist dient dazu sicherzustellen, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt. Die Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung. Sie kann die Fristwahrung in der Regel selbst dann gewährleisten, wenn die Eintragung einer Rechtsmittelbegründungsfrist versehentlich unterblieben ist (vgl. Senatsbeschluss vom 20. September 2022 - VI ZB 17/22, NJW-RR 2022, 1717 Rn. 7; BGH, Beschlüsse vom 21. Juni 2023 - XII ZB 418/22, juris Rn. 11; vom 6. Oktober 2020 - XI ZB 17/19, juris Rn. 9 mwN).

bb) Die Klägerin hat nicht vorgetragen, dass ihr Prozessbevollmächtigter diese Vorgaben bei der Organisation seiner Kanzlei eingehalten hatte. Dies macht die Rechtsbeschwerde auch nicht geltend.

c) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist nicht auszuschließen, dass bei Notierung einer Vorfrist die Berufungsbegründungsfrist gewahrt worden wäre.

aa) Wiedereinsetzung kann nicht gewährt werden, wenn die Ursächlichkeit des Organisationsmangels für das Versäumen der Frist nicht ausgeräumt ist. Hat ein Rechtsanwalt nicht alle ihm möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Wahrung einer Berufungsbegründungsfrist ergriffen, geht es zu seinen Lasten, wenn nicht festgestellt werden kann, dass die Frist auch bei Durchführung dieser Maßnahmen versäumt worden wäre (vgl. Senatsbeschluss vom 20. September 2022 - VI ZB 17/22, NJW-RR 2022, 1717 Rn. 10; BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2020 - XI ZB 17/19, juris Rn. 12 mwN).

bb) Bei auf die Vorfrist bezogen unterstellt ordnungsgemäßem Vorgehen wären die Akten dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin rechtzeitig vorgelegt worden. In diesem Fall hätte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin rechtzeitig bemerkt, dass eine Berufungsbegründung noch nicht erstellt war. Ein Rechtsanwalt hat eine ihm aufgrund einer Vorfrist vorgelegte und damit in seinen persönlichen Verantwortungsbereich (zurück-)gelangte Fristsache rechtzeitig zu bearbeiten und für die Weiterleitung der bearbeiteten Sache in der Weise Sorge zu tragen, dass der entsprechende Schriftsatz fristgerecht bei Gericht eingeht. Dieser Pflicht wird er nicht durch eine weitere, auf den Tag des Fristablaufs notierte Frist enthoben. Hätte mithin der Prozessbevollmächtigte der Klägerin nach Vorlage der Akten zur Vorfrist die Berufungsbegründung fristgerecht fertiggestellt und einer Büroangestellten mit der Weisung übergeben, sie bei Gericht einzureichen, wäre die Berufungsbegründungsfrist gewahrt worden (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 20. September 2022 - VI ZB 17/22, NJW-RR 2022, 1717 Rn. 11 f.; BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2020 - XI ZB 17/19, juris Rn. 14 mwN).

Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ergibt sich Abweichendes nicht aus dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 13. September 2018 - V ZB 227/17, NJW-RR 2018, 1451 Rn. 8 f., der eine andere Sachverhaltsgestaltung betrifft (unzutreffende Übertragung der in der Handakte notierten Hauptfrist in den Fristenkalender). Zwar weist sie im Ausgangspunkt zutreffend darauf hin, dass die Vorfrist keine echte Frist darstellt, sondern die rechtzeitige Wiedervorlage sichert, von der Hauptfrist abhängt und von dieser ausgehend durch einfache Rückrechnung ermittelt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 227/17, NJW-RR 2018, 1451 Rn. 9). Allerdings existiert entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde kein Erfahrungssatz, dass die Notierung der Vorfrist nicht ohne die Notierung der Hauptfrist geschieht. Dagegen spricht vorliegend schon der Umstand, dass nach Vortrag der Klägerin die Angestellte ihres Prozessbevollmächtigten die Frist zur Einlegung der Berufung korrekt in den Fristenkalender eingetragen hat.

d) Schließlich hätte entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde das Berufungsgericht die Klägerin nicht darauf hinweisen müssen, dass es ein etwaiges versehentliches Unterbleiben der Notierung der Vorfrist und darauf bezogene Anweisungen ihres Prozessbevollmächtigten gegenüber seinem Kanzleipersonal für relevant hält. Zwar können im Wiedereinsetzungsverfahren erkennbar unklare oder ungenaue Angaben, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten ist, über die Frist nach § 234 Abs. 1, § 236 Abs. 2 ZPO hinaus erläutert und vervollständigt werden (vgl. Senatsbeschluss vom 15. Februar 2022 - VI ZB 37/20, NJW-RR 2022, 855 Rn. 10). Vorliegend sind Ausführungen im Wiedereinsetzungsantrag zur Notierung einer Vorfrist aber nicht unklar oder ungenau; vielmehr fehlt insoweit jeglicher Vortrag. Die Anforderungen an eine wirksame Organisation des Fristenwesens und deren Darlegung im Rahmen eines Wiedereinsetzungsantrags sind bekannt und müssen einem Rechtsanwalt auch ohne richterliche Hinweise geläufig sein (vgl. etwa Zöller/Greger, ZPO 34. Aufl., § 233 Rn. 22, 23.18, § 236 Rn. 6). Insoweit fehlender Vortrag erlaubt den Schluss darauf, dass entsprechende Sicherungsvorkehrungen gefehlt haben (vgl. Senatsbeschluss vom 15. Februar 2022 - VI ZB 37/20, NJW-RR 2022, 855 Rn. 10 mwN).

3. Danach hat das Berufungsgericht die Berufung der Klägerin wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu Recht als unzulässig verworfen (§ 520 Abs. 2 und Abs. 3 ZPO).