BGH: Maßgeblichkeit des Zustellungsdatums im elektronischen Empfangsbekenntnis
Verfahrensrecht
BGH, Beschluss vom 29.05.2024, I ZB 84/23
Verfahrensgang: LG München I, 29 O 12269/22 vom 06.04.2023
OLG München, 13 U 2195/23 e vom 30.11.2023
Leitsatz:
Ein Rechtsanwalt muss Vorkehrungen dafür treffen, dass ein Zustellungsdatum, das in einem von ihm abgegebenen elektronischen Empfangsbekenntnis eingetragen ist, auch in seiner - noch in Papierform geführten - Handakte dokumentiert wird. An die Zustellung anknüpfende Fristen müssen anhand der Angaben im elektronischen Empfangsbekenntnis berechnet werden.
Gründe:
I. Die Klägerin hat die Beklagte vor dem Landgericht auf Schadensersatz wegen Verletzung einer Nebenpflicht aus einem Maklervertrag in Anspruch genommen. Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 6. April 2023 abgewiesen. Das Urteil ist der Klägerin ausweislich des elektronischen Empfangsbekenntnisses (eEB) ihres Prozessbevollmächtigten am 11. April 2023 über sein besonderes elektronisches Anwaltspostfach (beA) zugestellt worden. Er hat am 12. Mai 2023 beim Oberlandesgericht Berufung gegen dieses Urteil eingelegt und das Rechtsmittel in demselben Schriftsatz begründet.
Das Berufungsgericht hat die Klägerin mit ihr am 22. September 2023 zugestelltem Beschluss darauf hingewiesen, dass es beabsichtige, die Berufung wegen Versäumung der Berufungsfrist als unzulässig zu verwerfen.
Darauf hat die Klägerin am 1. Oktober 2023 Stellung genommen und vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Sie hat vorgetragen, zwar datiere die Verfügung, auf die das Urteil versandt worden sei, auf den 11. April 2023. Nach den vorliegenden Unterlagen sei es allerdings erst am 12. April 2023 per beA eingegangen. In der Kanzlei des Klägervertreters sei die Fristüberwachung bei beA-Eingängen so gestaltet, dass das Dokument am Eingangstag mit einem Dateinamen gescannt/gespeichert werde, der den Absender und das Datum der Erstellung des eingegangenen Schreibens wiedergebe; zugleich werde das Datum der Speicherung erfasst. Wegen der Anordnung, dies kalendertäglich zu tun, gewährleiste der Dateiname im Zusammenhang mit der Festlegung des Erstellungsdatums eine (weitere) Bestätigung des Eingangstermins. Es werde um Akteneinsicht gebeten um zu prüfen, ob ein eEB, das laut beA nicht gespeichert werden könne, für den 11. April 2023 vorliege.
Mit der Klägerin am 9. Oktober 2023 zugegangener Verfügung hat die Vorsitzende des Berufungssenats Akteneinsicht bewilligt und mitgeteilt, dass sich als Anlage zum Verkündungsvermerk des Landgerichts ein Empfangsbekenntnis des Klägervertreters vom 11. April 2023 bei der Akte befinde.
Die Klägerin hat am 11. Oktober 2023 ihren "schon angekündigten" Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist wiederholt und "soweit erforderlich" ergänzend einen Antrag auf Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist gestellt. Erst mit Eingang der Verfügung vom 9. Oktober 2023 sei für ihren Prozessbevollmächtigten "belastbar" klar geworden, dass tatsächlich eine Verfristung vorliege. In seiner Kanzlei würden im beA eingehende Schriftstücke am Tag der Kenntnisnahme ausgedruckt und der Papierstapel werde dem Sekretariat überstellt. Dort bestehe die generelle Anweisung, die Schriftstücke auf Fristen und Termine durchzusehen und diese im System zu notieren. Dem Klägervertreter würden die Schriftstücke nach Erfassung zur körperlichen Akte erneut vorgelegt, wobei der Posteingangsstapel separat gehalten werde. Er verfüge dann per Diktat die notwendige Weiterbearbeitung und weise zu Beginn des Diktats unter Nennung des Posteingangsdatums an, dass Fristen und deren Eintrag nochmals zu überprüfen seien. Dies stelle das erforderliche Vier-Augen-Prinzip sicher. In der vorliegenden Sache habe die zuverlässige Rechtsanwaltsfachangestellte K. die Weiterbearbeitung durchgeführt. Es habe bislang nicht nachvollzogen werden können, warum auch die zweite Sicherung versagt habe.
Das Berufungsgericht hat die Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist und die Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist verworfen. Es hat auch die Berufung der Klägerin verworfen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Klägerin, mit der sie die Aufhebung des Beschlusses des Berufungsgerichts erstrebt und an ihrem Wiedereinsetzungsbegehren festhält. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Rechtsbeschwerde.
II. Das Berufungsgericht hat angenommen, der Wiedereinsetzungsantrag vom 1. Oktober 2023 gegen die Versäumung der Berufungsfrist sei zwar statthaft und fristgemäß gestellt worden, enthalte aber nicht die Angabe der die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen in Form einer aus sich selbst heraus verständlichen, geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe in der Kanzlei des Klägervertreters. Insbesondere fehle es an einer ausreichenden Darstellung, wie die Fristenüberwachung der Kanzlei organisiert sei. Geschildert werde letztlich nur, dass per beA eingehende Dokumente mit einem Dateinamen gespeichert würden, der das Datum der Erstellung des eingegangenen Schreibens wiedergebe.
Der Wiedereinsetzungsantrag gegen die Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist vom 11. Oktober 2023 sei ebenfalls statthaft. Allerdings sei der Antrag zu spät gestellt worden, weil die zweiwöchige Wiedereinsetzungsfrist mit der Zustellung des Hinweisbeschlusses am 22. September 2023 zu laufen begonnen habe. Gleiches gelte für den am 11. Oktober 2023 erneut gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist.
Unabhängig davon seien die Wiedereinsetzungsanträge auch unbegründet. Die Versäumung der Berufungsfrist beruhe auf einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Klägerin, das ihr zuzurechnen sei. Aus dem Vorbringen der Klägerin gehe nicht hervor, dass in der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten die Anweisung bestanden hätte, den für die Berechnung der Berufungs- wie der Berufungsbegründungsfrist maßgeblichen Zeitpunkt der Urteilszustellung (hier das Datum der Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses) gesondert in der (in der Kanzlei des Klägervertreters noch in körperlicher Form geführten) Handakte zu vermerken. Der Vortrag zur Speicherung per beA eingehender Dokumente am Eingangstag lege vielmehr nahe, dass sich der Klägervertreter für die Fristenüberwachung auf die Richtigkeit des durch den Speichervorgang generierten "elektronischen Eingangsstempels" verlasse. Außerdem fehlten Ausführungen dazu, wie der Fristenkalender der Kanzlei des Klägervertreters geführt werde, insbesondere wie sichergestellt sei, dass das für den Fristbeginn maßgebliche Datum tatsächlich und zutreffend im Kalender notiert werde. Der Klägervertreter habe schließlich auch nicht dargetan, dass er bei Vorlage der Akte zur Erstellung der Berufungs- und Berufungsbegründungsschrift noch einmal die Fristberechnung in ausreichender Weise überprüft hätte.
Die Berufung der Klägerin sei daher als unzulässig zu verwerfen.
III. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist unzulässig, weil weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 ZPO). Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde verletzt der angefochtene Beschluss nicht den Anspruch der Klägerin auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) oder ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerin mit Recht als unzulässig verworfen (§ 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Es hat zutreffend angenommen, dass die Klägerin die Berufungsfrist versäumt hat und ihr die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 233 Satz 1 ZPO) zu versagen ist.
1. Zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, dass die Klägerin die einmonatige Frist des § 517 ZPO zur Einlegung der Berufung nicht gewahrt hat. Die Rechtsbeschwerde stellt die Richtigkeit des vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin vor dem Land- und Berufungsgericht abgegebenen elektronischen Empfangsbekenntnisses nicht in Frage. Die Berufungsfrist hat danach am 12. April 2023 begonnen und ist mit Ende des 11. Mai 2023, einem Werktag, abgelaufen (§ 222 ZPO, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 Fall 1 BGB). Die Berufung ist am 12. Mai 2023 und somit nach Fristablauf eingegangen.
2. Das Berufungsgericht hat der Klägerin die von ihr beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Recht versagt.
a) Hat eine Partei die Berufungsfrist versäumt, ist ihr nach § 233 Satz 1 ZPO auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn sie ohne ihr Verschulden an der Einhaltung der Frist verhindert war. Das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten wird der Partei zugerechnet (§ 85 Abs. 2 ZPO), das Verschulden sonstiger Dritter hingegen nicht. Fehler von Büropersonal hindern eine Wiedereinsetzung deshalb nicht, solange den Prozessbevollmächtigten kein eigenes Verschulden etwa in Form eines Organisations- oder Aufsichtsverschuldens trifft. Die Partei hat einen Verfahrensablauf vorzutragen und glaubhaft zu machen (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO), der ein Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist zweifelsfrei ausschließt. Verbleibt die Möglichkeit, dass die Einhaltung der Frist durch ein Verschulden der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten versäumt worden ist, ist der Antrag auf Wiedereinsetzung unbegründet (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 20. April 2023 - I ZB 83/22, WRP 2023, 971 [juris Rn. 9]).
b) Das Berufungsgericht hat ein der Klägerin zurechenbares Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten zu Recht darin gesehen, dass er keine Vorkehrung dafür getroffen hat, dass die Berufungsfrist anhand der Angaben im elektronischen Empfangsbekenntnis über die Zustellung des erstinstanzlichen Urteils berechnet und notiert wird.
aa) Ein Rechtsanwalt ist zwar befugt, die Feststellung, Berechnung und Notierung einfacher und in seinem Büro geläufiger Fristen gut ausgebildetem und sorgfältig überwachtem Büropersonal zu überlassen. Jedoch hat er durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Insbesondere muss ein Rechtsanwalt sicherstellen, dass das für den Lauf einer Rechtsmittelfrist maßgebliche Datum der Urteilszustellung in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise ermittelt wird (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 22. Juni 2010 - VIII ZB 12/10, NJW 2010, 3305 [juris Rn. 9] mwN). Eine verlässliche Grundlage für die Ermittlung des Zustellungsdatums bieten allein die Angaben in der die Zustellung dokumentierenden Urkunde, bei elektronischen Zustellungen also in dem vom Rechtsanwalt abgegebenen elektronischen Empfangsbekenntnis gemäß § 173 Abs. 3 ZPO (zu schriftlichen Empfangsbekenntnissen nach § 175 ZPO vgl. BGH, NJW 2010, 3305 [juris Rn. 10]; BGH, Beschluss vom 31. März 2021 - IV ZB 34/20, juris Rn. 10; zum Beweiswert eines elektronischen Empfangsbekenntnisses vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 2024 - VII ZB 22/23, NJW 2024, 1120 [juris Rn. 10]; zur Übertragbarkeit anwaltlicher Sorgfaltspflichten bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax auf den elektronischen Rechtsverkehr vgl. auch BGH, Beschluss vom 11. Januar 2023 - IV ZB 23/21, NJW-RR 2023, 425 [juris Rn. 14]).
bb) Diesen Anforderungen hat die Büroorganisation des Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht genügt. Er hat keine Vorkehrung dafür getroffen, dass das im elektronischen Empfangsbekenntnis eingetragene Zustellungsdatum auch in seiner - noch in Papierform geführten - Handakte dokumentiert wird, was etwa dadurch hätte geschehen können, dass das elektronische Empfangsbekenntnis oder gegebenenfalls ein Screenshot davon ausgedruckt und zur Akte genommen wird. Dementsprechend ist die Berufungsfrist nicht aufgrund der Angaben im elektronischen Empfangsbekenntnis, das das für den Fristbeginn maßgebliche Datum der Zustellung dokumentiert, berechnet worden, sondern aufgrund einer Speicherung der im besonderen elektronischen Anwaltspostfach eingegangen beglaubigten Urteilsabschrift unter einem Dateinamen, der das Datum der Speicherung enthält. Auch das Diktat, das der Prozessbevollmächtigte der Klägerin nach seinen Angaben später veranlasst hat, enthält keinen Bezug zu den Angaben im elektronischen Empfangsbekenntnis. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde besteht bei einem solchen Vorgehen keine ausreichende Gewährleistung der Fristwahrung. Dies folgt schon daraus, dass weder bei der Vergabe des Dateinamens noch im weiteren Verlauf der Bearbeitung ein Abgleich mit dem im elektronischen Empfangsbekenntnis eingetragenen Datum möglich gewesen ist. Das einer solchen Büroorganisation immanente Risiko, dass das im elektronischen Empfangsbekenntnis eingetragene Datum früher liegt als bei der Vergabe des Dateinamens und im weiteren Verlauf der Bearbeitung angenommen, hat sich im Streitfall verwirklicht.
c) Schließt das der Klägerin zurechenbare Verschulden ihres Prozessbevollmächtigen danach eine Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist aus, besteht auch kein Raum für eine Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist. Insbesondere stellt sich die Frage nicht, durch welches Ereignis der Lauf einer angenommenen Wiedereinsetzungsfrist in Gang gesetzt worden ist.
IV. Die Rechtsbeschwerde der Klägerin ist daher mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zu verwerfen.