BGH zum Anwaltsverschulden bei der Postausgangskontrolle
Verfahrens-/Prozessrecht
BGH, Beschluss vom 24.09.2025, VIII ZB 34/24
Verfahrensgang: AG Dannenberg, 31 C 277/23 vom 27.02.2024
LG Lüneburg, 6 S 13/24 vom 28.05.2024
Leitsatz:
Zur Frage des Wegfalls der Kausalität eines Anwaltsverschuldens bei der Postausgangskontrolle wegen unterlassener Weiterleitung des Schriftsatzes - hier: Berufungsbegründung - durch ein anderes als das in erster Instanz zuständige Gericht an das Berufungsgericht (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 5. Oktober 2005 - VIII ZB 125/04, NJW 2005, 3776, unter III 1 b bb).
Zum Entfallen der rechtlichen Erheblichkeit eines Anwaltsverschuldens infolge eines späteren, der Partei oder ihrem Prozessbevollmächtigten nicht zuzurechnenden Ereignisses (hier: Erkrankung des Prozessbevollmächtigten; im Anschluss an Senatsbeschluss vom 17. Juni 2025 - VIII ZB 54/24, WRP 2025, 1201 Rn. 42 ff.).
Gründe:
I. Der Kläger nimmt die Beklagte nach Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses wegen Zahlungsverzugs auf Räumung und Herausgabe in Anspruch.
Das Amtsgericht Danneberg (Elbe) hat der Klage stattgegeben. Gegen dieses, ihr am 27. Februar 2024 zugestellte Urteil hat die Beklagte fristgerecht Berufung beim zuständigen Landgericht Lüneburg eingelegt. Nachdem das Berufungsgericht mit Verfügung vom 30. April 2024 darauf hingewiesen hatte, dass eine Berufungsbegründung nicht fristgerecht eingereicht worden sei, hat die Beklagte mit einem am 4. Mai 2024 beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zugleich die Berufung begründet.
Zur Begründung des Wiedereinsetzungsgesuchs hat sie vorgetragen, ihre Prozessbevollmächtigte habe die Berufungsbegründung am 25. April 2024 fertiggestellt und um 20.10 Uhr mittels des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) an das Amtsgericht Lüneburg übermittelt. Vor der Übermittlung habe sie den Schriftsatz und dessen Anlage geöffnet und überprüft, ob die richtigen Dateien hochgeladen worden seien. Nach der Übermittlung habe sie den Übermittlungsstatus im Sendebericht geprüft, welcher ihr den Eingang der Nachricht bei dem Amtsgericht Lüneburg angezeigt habe. Tags darauf habe sie das beA nicht genutzt und am Samstag, dem 27. April 2024, sei sie an einem grippalen Infekt erkrankt, aufgrund dessen sie bis zum 30. April 2024 arbeitsunfähig gewesen sei. Ohne ihre Erkrankung hätte sie das beA am letzten Tag der Frist, am Montag, dem 29. April 2024, dazu genutzt, um in einer Strafsache einen Schriftsatz an das Amtsgericht Hamburg-Mitte zu versenden. Dabei wäre ihr die fehlerhafte Versendung der Berufungsbegründung an das Amtsgericht Lüneburg mit Sicherheit aufgefallen. Ohne ihre Erkrankung wäre es daher noch zu einer fristgerechten Einreichung der Berufungsbegründung beim Landgericht Lüneburg gekommen.
Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es - soweit für das Rechtsbeschwerdeverfahren von Interesse - im Wesentlichen ausgeführt:
Der Beklagten sei eine Wiedereinsetzung nicht zu gewähren, weil sie nicht ohne ihr Verschulden an der Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist gehindert gewesen sei; insoweit müsse sie sich ein Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen. Denn diese habe nicht kontrolliert, ob die Übermittlung an den richtigen Empfänger erfolgt sei. Ein Rechtsanwalt könne zwar die Ausgangskontrolle auf zuverlässiges Büropersonal übertragen und brauche sie nicht selbst vorzunehmen. Übernehme er sie aber im Einzelfall selbst und weiche von der gebotenen Praxis der Ausgangskontrolle ab, liege ein Verstoß gegen erhöhte Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts bei der Vornahme von fristgebundenen Prozesshandlungen vor.
Die Beklagte könne sich auch nicht darauf berufen, dass keine Weiterleitung durch das Amtsgericht stattgefunden habe. Denn sie habe nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass ihr Schriftsatz im ordnungsgemäßen Geschäftsgang fristgemäß an das zuständige Berufungsgericht hätte weitergeleitet werden können. Selbst wenn der Berufungsbegründungsschriftsatz bereits am 25. April 2024 bei dem Amtsgericht eingegangen sein sollte, sei zu berücksichtigen, dass der Folgetag ein Freitag gewesen sei und auch im elektronischen Rechtsverkehr bei Schriftsätzen, die nicht als eilig gekennzeichnet seien, eine Übersendungsfrist zuzubilligen sei. Dies wäre hier ein Zeitraum bis mindestens Dienstag, dem 30. April 2024, gewesen, so dass nicht mehr mit einem fristgerechten Eingang beim Landgericht zu rechnen gewesen sei. Denn das verfehlt eingegangene Schriftstück wäre üblicherweise erst am Freitag, dem 26. April 2024, dem Richter vorzulegen gewesen und bei Rückleitung an die Geschäftsstelle am Montag, dem 29. April 2024, wäre es erst am Folgetag zu einer Übersendung an das Landgericht gekommen. Eine Pflicht zur sofortigen Prüfung und Weiterleitung noch am Tag des Eingangs des Schriftsatzes oder zu einer beschleunigten Handhabung habe für das angegangene Amtsgericht nicht bestanden.
Schließlich seien die Ausführungen der Beklagten zu einem hypothetischen Verlauf - wenn sie gesund geblieben wäre - unbeachtlich, weil es jedenfalls keine regelhafte Fristenkontrolle sei, zufällig bei Versendung anderer Schriftstücke nochmals einen Fehlversand an ein unzuständiges Gericht zu bemerken.
Dagegen wendet sich die Rechtsbeschwerde der Beklagten.
II. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte und auch den Form- und Fristerfordernissen genügende Rechtsbeschwerde ist unzulässig. Die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO, die auch bei einer Rechtsbeschwerde gegen einen die Wiedereinsetzung ablehnenden und die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss gewahrt sein müssen (vgl. nur Senatsbeschluss vom 10. Oktober 2023 - VIII ZB 60/22, NJW 2024, 83 Rn. 17 mwN), sind nicht erfüllt. Die Rechtssache wirft weder entscheidungserhebliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf noch erfordert sie eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung.
1. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten zu Recht gemäß § 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO als unzulässig verworfen. Die Rechtsbeschwerde stellt nicht in Abrede, dass die Beklagte die Berufung nicht innerhalb der am 29. April 2024 abgelaufenen Frist (§ 222 Abs. 2 ZPO), sondern erst mit einem am 4. Mai 2024 beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz - und damit entgegen § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht rechtzeitig - begründet hat.
2. Anders als die Rechtsbeschwerde meint, erfordert die Sache eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO) auch nicht im Hinblick auf die Versagung einer Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist. Insbesondere hat das Berufungsgericht hierdurch weder die Verfahrensgrundrechte der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs und wirkungsvollen Rechtsschutzes verletzt, noch ist es damit von höchstrichterlicher Rechtsprechung abgewichen.
a) Die Verfahrensgrundrechte auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) verbieten es den Gerichten, einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten zu versagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden beziehungsweise die den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (st. Rspr.; vgl. nur BVerfG, NZA 2016, 122 Rn. 9 ff.; Senatsbeschlüsse vom 16. November 2021 - VIII ZB 70/20, NJW-RR 2022, 201 Rn. 11; vom 30. Januar 2024 - VIII ZB 85/22, NJW-RR 2024, 792 Rn. 11 mwN).
b) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht den Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten zu Recht und ohne Verletzung der vorgenannten Verfahrensgrundrechte sowie im Einklang mit den Maßgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung zurückgewiesen, da die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auf einem ihr gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden anwaltlichen Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten bei der Ausgangskontrolle fristgebundener Schriftsätze beruht (§ 233 Satz 1 ZPO).
aa) Ein Rechtsanwalt hat durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Hierzu hat er grundsätzlich sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Eintragung und Behandlung von Rechtsmittelfristen auszuschließen (st. Rspr.; vgl. nur Senatsbeschlüsse vom 30. Januar 2024 - VIII ZB 85/22, NJW-RR 2024, 792 Rn. 13; vom 11. Februar 2025 - VIII ZB 65/23, NJW 2025, 1508 Rn. 17; jeweils mwN).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müssen Prozessbevollmächtigte in ihrem Büro eine Ausgangskontrolle schaffen, durch die zuverlässig gewährleistet wird, dass fristwahrende Schriftsätze rechtzeitig hinausgehen (vgl. nur Senatsbeschlüsse vom 30. Januar 2024 - VIII ZB 85/22, aaO Rn. 14; vom 11. Februar 2025 - VIII ZB 65/23, aaO Rn. 18; jeweils mwN). Dabei entsprechen die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen mittels beA nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs denjenigen bei der Übersendung von Schriftsätzen per Telefax. Auch bei der Nutzung des beA ist es unerlässlich, den Versandvorgang zu überprüfen (vgl. nur Senatsbeschlüsse vom 30. Januar 2024 - VIII ZB 85/22, aaO Rn. 15; vom 11. Februar 2025 - VIII ZB 65/23, aaO; jeweils mwN).
Dies erfordert zunächst die Kontrolle, ob die Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments bei Gericht nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO erteilt worden ist. Es fällt in den Verantwortungsbereich des Rechtsanwalts, das in seiner Kanzlei für die Versendung fristwahrender Schriftsätze über das beA zuständige Personal dahingehend anzuweisen, Erhalt und Inhalt der automatisierten Eingangsbestätigung des Gerichts gemäß § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO nach Abschluss des Übermittlungsvorgangs stets zu kontrollieren (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. Januar 2023 - VI ZB 23/21, NJW-RR 2023, 425 Rn. 14; vom 6. September 2023 - IV ZB 4/23, NJW 2023, 3432 Rn. 14; vom 11. Februar 2025 - VIII ZB 65/23, aaO Rn. 19; vom 11. März 2025 - XI ZB 17/24, NJW-RR 2025, 701 Rn. 8; jeweils mwN). Diese Kontrollpflichten erstrecken sich unter anderem darauf, ob die Übermittlung vollständig und an das richtige Gericht erfolgte sowie - anhand des zuvor vergebenen Dateinamens - ob die richtige Datei übermittelt wurde (vgl. Senatsbeschlüsse vom 11. Mai 2021 - VIII ZB 9/20, NJW 2021, 2201 Rn. 46; vom 21. März 2023 - VIII ZB 80/22, NJW 2023, 1668 Rn. 20; vom 30. Januar 2024 - VIII ZB 85/22, aaO; vom 11. Februar 2025 - VIII ZB 65/23, aaO; jeweils mwN).
Der Rechtsanwalt kann diese Ausgangskontrolle zwar auf zuverlässiges Büropersonal übertragen und braucht sie nicht selbst vorzunehmen. Übernimmt er sie aber im Einzelfall selbst, muss er auch selbst für eine wirksame Ausgangskontrolle Sorge tragen (vgl. nur Senatsbeschluss vom 11. Februar 2025 - VIII ZB 65/23, aaO Rn. 20 mwN).
bb) Diesen Sorgfaltsanforderungen hat die Prozessbevollmächtigte der Beklagten schon deshalb nicht genügt, weil sich ihrem Vortrag nicht entnehmen lässt, dass sie überprüft hat, ob vom Amtsgericht Lüneburg eine Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments gemäß § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO erteilt wurde. Die Bezugnahme auf den - offenbar von ihrer Büroverwaltungssoftware angezeigten - Sendebericht reicht dafür grundsätzlich nicht aus (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 2025 - XI ZB 17/24, NJW-RR 2025, 701 Rn. 9 mwN; BSG, Beschluss vom 27. September 2023 - B 2 U 1/23 R, juris Rn. 10; BeckOK IT-Recht/Loos, Stand: 1. Juli 2025, § 130a ZPO Rn. 33c.1). Da die Anforderungen, die die Rechtsprechung an eine wirksame Ausgangskontrolle stellt, einem Rechtsanwalt bekannt sein müssen, erlaubt der Umstand, dass sich der Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten zur Frage der Prüfung der Eingangsbestätigung nicht verhält, ohne weiteres den Schluss darauf, dass eine solche Prüfung nicht erfolgt ist und entsprechende organisatorische Maßnahmen gefehlt haben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. Dezember 2015 - V ZB 72/15, NJW 2016, 874 Rn. 16; vom 15. Dezember 2015 - VI ZB 15/15, NJW 2016, 873 Rn. 13; vom 25. Februar 2016 - III ZB 42/15, NJW 2016, 1742 Rn. 11; vom 26. Mai 2021 - VIII ZB 55/19, juris Rn. 15; jeweils mwN).
Ungeachtet dessen ergibt sich aber auch aus der eigenen Darstellung der Prozessbevollmächtigten der Beklagten und wird von der Rechtsbeschwerde auch nicht in Abrede gestellt, dass im Streitfall eine ausreichende, den Grundsätzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung entsprechende Ausgangskontrolle nicht stattgefunden hat. Diese beschränkte sich vielmehr auf die Prüfung, ob die richtigen Dateien hochgeladen worden sind, und bezog sich nicht auch darauf, ob es sich bei dem als Empfänger angegebenen Gericht um das zuständige Gericht handelte. Spätestens bei einem gewissenhaften Blick auf den im Sendebericht angegebenen Adressaten, das Amtsgericht Lüneburg, hätte der Prozessbevollmächtigten der Beklagten auffallen müssen, dass der Schriftsatz an das falsche Gericht übersandt worden ist; dann wäre noch genug Zeit gewesen, um die Berufungsbegründung erneut fristwahrend an das zuständige Landgericht Lüneburg zu versenden.
c) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde war der der Beklagten demnach gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnende Fehler bei der Kontrolle der Übermittlung der Berufungsbegründung auch ursächlich für die Fristversäumung.
aa) Diese Ursächlichkeit entfällt - wie das Berufungsgericht im Ergebnis zu Recht angenommen hat - auch nicht etwa dadurch, dass die Beklagte mit einer Weiterleitung ihres beim Amtsgericht Lüneburg eingegangenen Schriftsatzes bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist an das Berufungsgericht hätte rechnen können.
(1) Ein Gericht ist nur unter besonderen Umständen gehalten, einer drohenden Fristversäumnis seitens der Partei entgegenzuwirken. Denn einer gerichtlichen Fürsorgepflicht sind im Interesse der Funktionsfähigkeit der Justiz Grenzen gesetzt (vgl. BVerfG, NJW 1995, 3173, 3175; Senatsbeschlüsse vom 11. Januar 2022 - VIII ZB 37/21, NJW-RR 2022, 346 Rn. 14; vom 21. März 2023 - VIII ZB 80/22, NJW 2023, 1668 Rn. 37; vom 11. Februar 2025 - VIII ZB 65/23, NJW 2025, 1508 Rn. 24; jeweils mwN).
Das Gericht ist einerseits aufgrund des verfassungsrechtlichen Anspruchs der Parteien auf ein faires und wirkungsvolles Verfahren zur Rücksichtnahme auf die Interessen der Parteien verpflichtet. Andererseits muss die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlichen Belastungen geschützt werden. Es besteht deshalb keine generelle Fürsorgepflicht des für die Rechtsmitteleinlegung unzuständigen Gerichts, durch Hinweise oder andere geeignete Maßnahmen eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern und auf diese Weise der Partei und ihrem Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die zutreffende Adressierung eines Schriftsatzes allgemein abzunehmen (BVerfG, NJW 2006, 1579 Rn. 8; BGH, Beschlüsse vom 14. Dezember 2010 - VIII ZB 20/09, NJW 2011, 683 Rn. 18; vom 15. Juni 2011 - XII ZB 468/10, NJW 2011, 2887 Rn. 12; vom 13. September 2012 - IX ZB 251/11, NJW 2013, 236 Rn. 10; vom 12. Mai 2016 - IX ZB 75/15, juris Rn. 16; vom 19. September 2017 - VI ZB 37/16, NJW-RR 2018, 314 Rn. 6; vom 20. April 2023 - I ZB 83/22, ZIP 2023, 1614 Rn. 16).
Geht ein fristgebundener Schriftsatz für das Rechtsmittelverfahren beim unzuständigen Ausgangsgericht ein oder ist die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts "ohne weiteres" beziehungsweise "leicht und einwandfrei" zu erkennen, ist dieses deshalb grundsätzlich (lediglich) verpflichtet, den Schriftsatz im ordentlichen Geschäftsgang an das zuständige Rechtsmittelgericht weiterzuleiten (vgl. BVerfG, NJW 2006, 1579 Rn. 9; BGH, Beschlüsse vom 5. Oktober 2005 - VIII ZB 125/04, NJW 2005, 3776 unter III 1 b aa; vom 20. April 2011 - VII ZB 78/09, NJW 2011, 2053 Rn. 12 f.; vom 15. Juni 2011 - XII ZB 468/10, aaO; vom 12. Oktober 2011 - IV ZB 17/10, NJW 2012, 78 Rn. 14; vom 27. Juli 2016 - XII ZB 203/15, NJW-RR 2016, 1340 Rn. 12; vom 19. September 2017 - VI ZB 37/16, aaO Rn. 5; vom 8. Mai 2020 - LwZB 1/19, juris Rn. 7; vom 27. August 2019 - VI ZB 32/18, NJW 2019, 3727 Rn. 14; vom 9. Dezember 2021 - V ZB 12/21, NJW-RR 2022, 567 Rn. 6 f.; vom 26. Januar 2023 - I ZB 42/22, NJW 2023, 1969 Rn. 21; vom 20. April 2023 - I ZB 83/22, aaO; vom 9. April 2025 - XII ZB 163/24, NJW-RR 2025, 884 Rn. 17). Die eine Wiedereinsetzung begehrende Partei hat darzulegen und glaubhaft zu machen, dass ihr Schriftsatz im normalen ordnungsgemäßen Geschäftsgang fristgerecht an das zuständige Rechtsmittelgericht hätte weitergeleitet werden können (BGH, Beschlüsse vom 6. November 2008 - IX ZB 208/06, NJW-RR 2009, 408 Rn. 7; vom 15. Juni 2011- XII ZB 468/10, aaO; vom 12. Juni 2013 - XII ZB 394/12, NJW-RR 2014, 2 Rn. 21; vom 19. September 2017 - VI ZB 37/16, aaO Rn. 5; vom 26. Januar 2023 - I ZB 42/22, aaO; vom 20. April 2023 - I ZB 83/22, aaO).
(2) Selbst wenn man nach den vorgenannten Grundsätzen das unzuständige, mit der Sache zuvor nicht befasste Amtsgericht Lüneburg als zur Weiterleitung des hier in Rede stehenden Schriftsatzes als verpflichtet ansähe, wäre mit einer fristwahrenden Übermittlung an das als Berufungsgericht zuständige Landgericht Lüneburg bis zum 29. April 2024 nicht zu rechnen gewesen.
(a) Auch im Falle einer Weiterleitungspflicht ist das (unzuständige) Gericht, bei dem der fristgebundene Schriftsatz eingereicht wurde, grundsätzlich nicht verpflichtet, diesen dem zuständigen Gericht unter höchster Beschleunigung zukommen zu lassen (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Oktober 1986 - VIII ZB 40/86, NJW 1987, 440 unter II 3 d; vom 21. Februar 2018 - IV ZB 18/17, juris Rn. 13; vom 19. Juli 2023 - AnwZ (Brfg) 31/22, juris Rn. 26; vom 23. Oktober 2024 - XII ZB 576/23, NJW-RR 2025, 119 Rn. 16). Im Rahmen des ordentlichen Geschäftsgangs ist üblicherweise damit zu rechnen, dass ein an eine zentrale gerichtliche Annahmestelle gesandter Schriftsatz am nächsten Werktag, hier also am Freitag, dem 26. April 2024, auf der zuständigen Geschäftsstelle eingeht und dem zuständigen Richter an dem darauffolgenden Werktag, also am Montag, dem 29. April 2024, und nicht schon - wie das Berufungsgericht gemeint hat - am Freitag, dem 26. April 2024, vorgelegt wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. April 2023 - I ZB 83/22 - ZIP 2023, 1614 Rn. 18; vom 9. April 2025 - XII ZB 163/24, NJW-RR 2025, 884 Rn. 19; jeweils mwN).
Zudem kann nicht erwartet werden, dass die richterliche Verfügung der Weiterleitung der Rechtsmittelschrift noch am selben Tag zur Geschäftsstelle gelangt und dort ausgeführt wird. Vielmehr entspricht es dem ordentlichen Geschäftsgang, dass die Geschäftsstelle die richterlich verfügte Weiterleitung am darauffolgenden Werktag, hier also am Dienstag, dem 30. April 2024, umsetzt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. April 2023 - I ZB 83/22, aaO Rn. 22; vom 23. Oktober 2024 - XII ZB 576/23, aaO; vom 9. April 2025 - XII ZB 163/24, aaO). Demnach kann dahinstehen, ob das Amtsgericht Lüneburg den Schriftsatz - wie die Rechtsbeschwerde meint - elektronisch an das Landgericht hätte weiterleiten müssen, weil auch in diesem Fall mit einem Eingang bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist nicht mehr zu rechnen war.
(b) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde steht damit die Annahme des Berufungsgerichts, mit einem Eingang der Berufungsbegründung bei ihm sei frühestens am 30. April 2024 zu rechnen gewesen, im Einklang mit höchstrichterlicher Rechtsprechung. Aus der von der Rechtsbeschwerde zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 29. August 2017 (VI ZB 49/16, NJW-RR 2018, 56 Rn. 15) ergibt sich nichts anderes. Dort war der Schriftsatz zwar erst am Freitagvormittag in der allgemeinen Posteingangsstelle der Justizbehörden eingegangen. Der Bundesgerichtshof ist in dieser Entscheidung jedoch ebenfalls davon ausgegangen, dass selbst dann, wenn mit einem Eingang auf der Geschäftsstelle bereits am Freitagnachmittag gerechnet werden könne, die Akten dem zuständigen Richter frühestens an dem auf die Verfügung der Geschäftsstelle folgenden Werktag, also am Montag, vorgelegt worden wären und mit einer Bearbeitung von dessen (Weiterleitungs-)Verfügung erst am Dienstag zu rechnen gewesen wäre. Diese zeitliche Berechnung deckt sich mit derjenigen des Berufungsgerichts im Streitfall, die - wie aufgezeigt - rechtlich nicht zu beanstanden ist.
(c) Auch die insoweit von der Rechtsbeschwerde erhobene Verfahrensrüge greift nicht durch. Der Senat hat diese Rüge geprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von einer näheren Begründung wird nach der im Rechtsbeschwerdeverfahren gemäß § 577 Abs. 6 Satz 2 ZPO entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.
bb) Wie das Berufungsgericht ebenfalls zutreffend ausgeführt hat, ist die rechtliche Erheblichkeit der - wie oben ausgeführt - unzureichenden Postausgangskontrolle auch nicht deshalb entfallen, weil die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auch auf den zeitlich nachfolgenden Umstand zurückzuführen ist, dass die Prozessbevollmächtigte der Beklagten nach ihrer anwaltlichen Versicherung vom 27. bis zum 30. April 2024 arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei und infolgedessen - wie sie geltend macht - die fehlerhafte Adressierung der Berufungsbegründung vor dem Ablauf der Berufungsbegründungsfrist nicht hätte bemerken können.
(1) Die Rechtsbeschwerde weist zwar im Ausgangspunkt zutreffend darauf hin, dass nach den Grundsätzen der sogenannten "überholenden Kausalität" ein früheres Verschulden einer Partei oder eines Prozessbevollmächtigten die Wiedereinsetzung ausnahmsweise dann nicht ausschließt, wenn dessen rechtliche Erheblichkeit durch ein späteres, der Partei oder ihrem Bevollmächtigten nicht zuzurechnendes Ereignis entfällt (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 22. November 2022 - XI ZB 13/22, NJW 2023, 1224 Rn. 14 f.; vom 21. November 2024 - I ZB 34/24, NJW-RR 2025, 188 Rn. 17; vom 17. Juni 2025 - VIII ZB 54/24, WRP 2025, 1201 Rn. 43 mwN). In einem solchen Fall tritt das mitursächliche Verschulden des Prozessbevollmächtigten einer Partei hinter eine wesentliche andere Ursache zurück und ist damit bei wertender Würdigung des Ursachenverlaufs die rechtliche Erheblichkeit des Anwaltsverschuldens zu verneinen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Mai 2019 - IX ZB 6/18, NJW 2019, 2028 Rn. 19; vom 17. Juni 2025 - VIII ZB 54/24, aaO).
Die Wertung, dass die rechtliche Erheblichkeit eines Verschuldens des Prozessbevollmächtigten infolge einer späteren Ursache entfällt, erscheint jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn der Prozessbevollmächtigte durch eine allgemeine Arbeitsanweisung Vorsorge dafür getroffen hatte, dass bei normalem Verlauf der Dinge die Frist trotz seines Verschuldens gewahrt worden wäre. Es muss sich demnach um eine Anweisung handeln, die bestimmt und geeignet ist, gerade die Folgen des Anwaltsfehlers zu verhindern (Senatsbeschluss vom 17. Juni 2025 - VIII ZB 54/24, aaO Rn. 44 mwN).
(2) Nach dieser Maßgabe genügt es entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht, dass die Frist durch "irgendeinen" hypothetischen Verlauf gewahrt worden wäre. Vielmehr hätte die Prozessbevollmächtigte der Beklagten im Vorfeld Vorkehrungen in Gestalt organisatorischer Maßnahmen treffen müssen, um Fehlern wie dem hier vorliegenden zu begegnen. Davon kann nach ihren eigenen Angaben im Streitfall nicht ausgegangen werden, da sie lediglich behauptet hat, ihr wäre die fehlerhafte Übermittlung der Berufungsbegründung aus Anlass einer von ihr beabsichtigten Versendung eines Schriftsatzes in einem anderen (Straf-)Verfahren aufgefallen. Wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, rechtfertigt es ein solchermaßen zufälliges Zusammentreffen von Ereignissen bei der gebotenen wertenden Betrachtung nicht, die rechtliche Erheblichkeit des Anwaltsverschuldens zu verneinen.