BGH zur ordnungsgemäßen Besetzung des Gerichts
Verfahrens-/Prozessrecht
BGH, Urteil vom 15.10.2025, VIII ZR 51/24
Verfahrensgang: LG Freiburg, 6 O 84/20 vom 18.12.2020
OLG Karlsruhe, 4 U 116/23 vom 27.02.2024
Leitsatz:
Ein Gericht ist nicht ordnungsgemäß besetzt, wenn es seine Zuständigkeit aus einem Präsidiumsbeschluss ableitet, der im Einzelfall sowohl die Neuverteilung als auch die Beibehaltung bestehender Zuständigkeiten ermöglicht und dabei die konkreten Zuständigkeiten von Beschlüssen einzelner Spruchkörper abhängig macht (im Anschluss an BVerfG, wistra 2017, 187 Rn. 26; NJW 2018, 1155 Rn. 19; BGH, Urteil vom 7. April 2021 - 1 StR 10/20, NStZ 2023, 122 Rn. 31; jeweils mwN). Eine solche Delegation der Entscheidung über die Geschäftsverteilung an die Spruchkörper, die gerade Adressaten der generell-abstrakten Zuständigkeit sein sollen, ist mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht vereinbar (im Anschluss an BVerfG, wistra 2017, 187 Rn. 31; NJW 2018, 1155 Rn. 22; BGH, Beschlüsse vom 27. Januar 2020 - 1 StR 622/17, StV 2020, 821 Rn. 18; vom 17. Januar 2023 - 2 StR 87/22, BGHSt 67, 234 Rn. 49).
Tatbestand:
Der Kläger macht nach einem wegen eines Sachmangels erklärten Rücktritt gegen die Beklagte Ansprüche auf Rückabwicklung eines Pferdekaufvertrags geltend.
Das Landgericht hat die auf Rückzahlung des Kaufpreises und Erstattung notwendiger Verwendungen nebst Zinsen, Zug um Zug gegen Rückgabe und Rückübereignung des Pferdes, Feststellung des Annahmeverzugs und der Ersatzpflicht von Aufwendungen sowie Erstattung außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten gerichtete Klage abgewiesen.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung beim Oberlandesgericht Karlsruhe eingelegt. Nach dem dort geltenden Geschäftsverteilungsplan war die Sache dem 9. Zivilsenat zugewiesen. Durch Beschluss des Präsidiums des Oberlandesgerichts vom 22. Juli 2021 wurden mehrere beim 9. Zivilsenat anhängige Verfahren, unter anderem die vorliegende Sache, dem 25. Zivilsenat zugewiesen. Von der Zuweisung sollten bestimmte Verfahren ausgenommen bleiben. Hierzu bestimmt Ziff. 3 Buchst. c des Präsidiumsbeschlusses:
"Ausgenommen sind jeweils Verfahren, in denen bis zum 31.07.2021 bereits eine Terminierung erfolgt oder ein Hinweisbeschluss nach § 522 ZPO ergangen ist [...] Diese Verfahren werden bei der Bestimmung der zu übertragenden Verfahren übersprungen. [...]"
Aufgrund einer weiteren Änderung der Geschäftsverteilung durch Präsidiumsbeschluss vom 3. April 2023 wurde unter anderem das vorliegende Verfahren nunmehr dem 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts übertragen. Dieser hat mit der angefochtenen Entscheidung das erstinstanzliche Urteil abgeändert und der Klage insgesamt stattgegeben.
Mit der vom Senat zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Hinblick auf das Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe:
I. Die Revision hat Erfolg. Das angegriffene Urteil des 4. Zivilsenats des Berufungsgerichts verletzt - wie die Revision zu Recht rügt - das Recht der Beklagten aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auf den gesetzlichen Richter.
1. Mit der Garantie des gesetzlichen Richters will Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der Gefahr vorbeugen, dass die Justiz durch eine Manipulation der rechtsprechenden Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird. Es soll vermieden werden, dass durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter das Ergebnis der Entscheidung - gleichgültig von welcher Seite - beeinflusst werden kann. Damit sollen die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt und das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden (vgl. BVerfG, wistra 2017, 187 Rn. 22; NJW 2018, 1155 Rn. 16; NJW 2025, 2455 Rn. 38; jeweils mwN; BGH, Beschluss vom 25. Juli 2023 - AnwZ(Brfg) 25/22, juris Rn. 6).
a) Daraus folgt, dass die Regelungen, die der Bestimmung des gesetzlichen Richters dienen, im Voraus so eindeutig wie möglich festlegen müssen, welches Gericht, welcher Spruchkörper und welche Richter zur Entscheidung des Einzelfalls berufen sind (vgl. BVerfG, wistra 2017, 187 Rn. 23; NJW 2018, 1155 Rn. 17; jeweils mwN). Auch die die gesetzlichen Bestimmungen ergänzenden Regelungen über die Geschäftsverteilung in den jährlich aufzustellenden Geschäftsverteilungsplänen der Gerichte, die die Zuständigkeit der jeweiligen Spruchkörper und ihre Zusammensetzung festlegen, müssen die wesentlichen Merkmale gesetzlicher Vorschriften aufweisen (vgl. BVerfG, wistra 2017, 187 Rn. 25; NJW 2018, 1155 Rn. 17; jeweils mwN). Sie müssen im Voraus generellabstrakt die Zuständigkeit der Spruchkörper und die Zuweisung der einzelnen Richter regeln, damit die einzelne Sache "blindlings" aufgrund allgemeiner, vorab festgelegter Merkmale an den entscheidenden Richter gelangt und so der Verdacht einer Manipulation der rechtsprechenden Gewalt ausgeschlossen wird (vgl. BVerfG, wistra 2017, 187 Rn. 25; NJW 2018, 1155 Rn. 17; BGH, Urteile vom 16. Dezember 2022 - V ZR 263/21, NJW-RR 2023, 226 Rn. 8; vom 18. Juni 2020 - III ZR 258/18, WM 2020, 1540 Rn. 11; Beschlüsse vom 27. Januar 2020 - 1 StR 622/17, StV 2020, 821 Rn. 17; vom 21. April 2022 - StB 13/22, StV 2022, 799 Rn. 11; jeweils mwN).
b) Eine nachträgliche Änderung der Geschäftsverteilung kann geboten sein, wenn nur auf diese Weise dem Verfassungsgebot einer Gewährleistung von Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit nachzukommen ist (vgl. BVerfG, wistra 2017, 187 Rn. 24; NJW 2018, 1155 Rn. 19; jeweils mwN). Die Bestimmung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG steht einer Änderung der Zuständigkeit auch für bereits anhängige Verfahren jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Neuregelung generell gilt, zum Beispiel mehrere anhängige Verfahren und eine unbestimmte Vielzahl künftiger, gleichartiger Fälle erfasst, und nicht aus sachwidrigen Gründen geschieht (BVerfG, wistra 2017, 187 Rn. 24; NJW 2018, 1155 Rn. 19; BGH, Urteil vom 16. Oktober 2008 - IX ZR 183/06, NJW 2009, 1351 Rn. 7; jeweils mwN; Beschluss vom 21. April 2022 - StB 13/22, StV 2022, 799 Rn. 13).
c) Soweit bereits anhängige Verfahren von einer Neuverteilung bestehender Zuständigkeiten erfasst werden, sind Regelungen nur dann im Voraus generell-abstrakt, wenn die Neuverteilung durch den Geschäftsverteilungsplan selbst erfolgt. Diesem Erfordernis werden Präsidiumsbeschlüsse nicht gerecht, wenn sie im Einzelfall sowohl die Neuverteilung als auch die Beibehaltung bestehender Zuständigkeiten ermöglichen und dabei die konkreten Zuständigkeiten von Beschlüssen einzelner Spruchkörper abhängig machen (vgl. BVerfG, wistra 2017, 187 Rn. 26; NJW 2018, 1155 Rn. 19; BGH, Urteil vom 7. April 2021 - 1 StR 10/20, NStZ 2023, 122 Rn. 31; jeweils mwN).
d) Genügt die Geschäftsverteilung diesen Anforderungen nicht, ist das Gericht, welches seine Zuständigkeit daraus ableitet, nicht ordnungsgemäß besetzt (vgl. BGH, Urteil vom 16. Oktober 2008 - IX ZR 183/06, NJW 2009, 1351 Rn. 3 mwN; Beschluss vom 27. Januar 2020 - 1 StR 622/17, StV 2020, 821 Rn. 13). Die Recht- und Verfassungsmäßigkeit der Geschäftsverteilung und insbesondere ihr Charakter als abstrakt-generelle Regelung ist hierbei - anders als wenn lediglich eine fehlerhafte Auslegung oder Anwendung einer im Voraus abstrakt-generellen Zuständigkeitsregel (etwa eines Geschäftsverteilungsplans oder eines Änderungsbeschlusses des Präsidiums gemäß § 21e Abs. 3 GVG) durch das Gericht im Einzelfall in Rede steht - nicht nur auf Willkür, sondern auf jeden Rechtsverstoß zu untersuchen (vgl. BVerfG, wistra 2017, 187 Rn. 29; NJW 2018, 1155 Rn. 20; jeweils mwN; BGH, Urteile vom 16. Oktober 2008 - IX ZR 183/06, aaO; vom 16. Dezember 2022 - V ZR 263/21, NJW-RR 2023, 226 Rn. 8; Beschlüsse vom 27. Januar 2020 - 1 StR 622/17, aaO Rn. 16 f.; vom 21. April 2022 - StB 13/22, StV 2022, 799 Rn. 25 f.).
2. Nach diesen Maßstäben ist das angegriffene Urteil nicht mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar. Es ist durch einen Spruchkörper erlassen worden, dem das vorliegende Verfahren aufgrund einer mit den vorgenannten Grundsätzen nicht zu vereinbarenden Änderung des Geschäftsverteilungsplans zugewiesen wurde.
a) Die Übertragung der Zuständigkeit für das Verfahren von dem 9. Zivilsenat auf den 25. Zivilsenat des Berufungsgerichts durch den Präsidiumsbeschluss vom 22. Juli 2021 beruht auf einer Regelung, die nicht generell-abstrakt im Voraus die Zuständigkeit eines Spruchkörpers festgelegt hat.
Die Bestimmung unter Ziff. 3 Buchst. c des vorgenannten Präsidiumsbeschlusses nimmt unter anderem solche Verfahren von der Übertragung auf den 25. Zivilsenat des Berufungsgerichts aus, in denen bis zum 31. Juli 2021 eine Terminierung erfolgt oder ein "Hinweisbeschluss nach § 522 ZPO" ergeht. Diese "offene" Stichtagslösung (siehe hierzu BGH, Beschlüsse vom 27. Januar 2020 - 1 StR 622/17, StV 2020, 821 Rn. 18 mwN; vom 17. Januar 2023 - 2 StR 87/22, BGHSt 67, 234 Rn. 49) räumt dem abgebenden Zivilsenat die Möglichkeit ein, innerhalb eines bestimmten Zeitraums - hier von mehreren Tagen - selbst auf den Übergang von bei ihm anhängigen Verfahren einzuwirken, indem er in diesem Zeitraum eine mündliche Verhandlung anberaumt oder einen "Hinweisbeschluss nach § 522 ZPO" erlässt. Die hier getroffene Stichtagslösung trägt damit den Anforderungen an eine im Voraus zu treffende, generell-abstrakte Zuständigkeitsbegründung nicht Rechnung, weil sie die Zuständigkeit des jeweiligen Spruchkörpers von später eintretenden Umständen abhängig macht. Es handelt sich mithin um eine Bestimmung, die die Begründung konkreter, auf den Einzelfall bezogener Zuständigkeiten erst im Nachhinein ermöglicht.
Eine solche Delegation der Entscheidung über die Geschäftsverteilung an die Spruchkörper, die gerade Adressaten der generell-abstrakten Zuständigkeit sein sollen, ist - wie das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof wiederholt entschieden haben - mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht vereinbar (vgl. BVerfG, wistra 2017, 187 Rn. 31 [Stichtag mehrere Tage nach dem Präsidiumsbeschluss]; NJW 2018, 1155 Rn. 22 [Stichtag rund ein Monat nach dem Präsidiumsbeschluss]; BGH, Beschlüsse vom 27. Januar 2020 - 1 StR 622/17, StV 2020, 821 Rn. 18; vom 17. Januar 2023 - 2 StR 87/22, BGHSt 67, 234 Rn. 49 [Stichtag jeweils mehrere Tage nach dem Präsidiumsbeschluss]; aus dem Schrifttum siehe etwa Jachmann-Michel in Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: März 2025, Art. 101 Rn. 52; MünchKommZPO/Rauscher, 7. Aufl., Einleitung Rn. 275; KK-StPO/Diemer, 9. Aufl., § 21e GVG Rn. 11a, 11b; BeckOKGVG/Valerius, Stand: 15. August 2025, § 21e Rn. 19.3).
b) Der Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters in dem Präsidiumsbeschluss vom 22. Juli 2021 setzt sich in dem - hierauf aufbauenden - Präsidiumsbeschluss vom 3. April 2023 und damit auch in dem angegriffenen Urteil des 4. Zivilsenats des Berufungsgerichts fort.
3. Die Beklagte ist mit der Rüge des Verstoßes gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter nicht deshalb ausgeschlossen, weil sie es versäumt hat, bereits in der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz die Besetzung der Richterbank zu rügen. Denn das Recht auf den gesetzlichen Richter ist unverzichtbar. Die Vorschrift des § 295 ZPO findet zwar auf einfache Fehler bei der Auslegung und Würdigung des Geschäftsverteilungsplans Anwendung, nicht jedoch bei Verstößen des Geschäftsverteilungsplans gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (BGH, Urteile vom 16. Oktober 2008 - IX ZR 183/06, NJW 2009, 1351 Rn. 13; vom 15. Oktober 2013 - II ZR 112/11, juris Rn. 7; jeweils mwN).
II. Das Berufungsurteil ist daher ohne Sachprüfung aufzuheben (§ 562 Abs. 2 ZPO). Die Sache ist an den für die Verhandlung und Entscheidung über die Berufung zuständigen 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO).
Die Nichterhebung der Gerichtskosten für das Nichtzulassungsbeschwerde- und das Revisionsverfahren beruht auf § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG.
Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass die vom Berufungsgericht angelegten materiell-rechtlichen Maßstäbe revisionsrechtlich nicht zu beanstanden sind. Insbesondere kann es dem Käufer eines Pferdes im Allgemeinen nicht als Sorgfaltsverstoß im Sinne von § 442 Abs. 1 Satz 2 BGB angelastet werden, wenn er keine tierärztliche Ankaufsuntersuchung veranlasst hat (vgl. Senatsurteil vom 20. Februar 2013 - VIII ZR 40/12, juris Rn. 15).