BSG zur Frage der überlangen Verfahrensdauer bei Streit um die Wirksamkeit einer Klagerücknahme
Gerichtsverfassungsgesetz
BSG, Urteil vom 09.03.2023, B 10 ÜG 2/21 R
Verfahrensgang: LSG Hessen, L 6 SF 3/19 EK AL vom 18.11.2020
Leitsatz:
Das Verfahren zur Überprüfung der Wirksamkeit einer Klagerücknahme und das von der Klagerücknahme betroffene Verfahren sind, wenn die Klagerücknahme wirksam war, jeweils eigenständige Gerichtsverfahren im Sinne des Entschädigungsrechts.
Gründe:
I
Der Kläger begehrt eine Entschädigung wegen unangemessener Dauer mehrerer vor dem SG Frankfurt am Main und dem Hessischen LSG geführter Verfahren, die er als Einheit betrachtet.
Dem Entschädigungsverfahren liegt ein Streit über die Weitergewährung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit ab 9.12.1998 zugrunde. Auf eine im Jahr 1999 vor dem SG Frankfurt am Main erhobene Klage (S 19 AL 1739/99) und die nachfolgende Berufung (L 10 AL 115/04, später L 7/10 AL 115/04) wurde die beklagte Bundesagentur für Arbeit mit Urteil des Hessischen LSG vom 21.8.2009 dem Grunde nach zur Zahlung von Alhi verurteilt. Gegen die Höhe der daraufhin bewilligten Leistungen wandte sich der Kläger mit einer im November 2010 erhobenen Klage (S 1 AL 520/10, später S 32 AL 520/10). In der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 11.8.2014 nahm seine damalige Prozessbevollmächtigte die Klage zurück. Der Rücknahme widersprach der Kläger mit Schreiben vom 20.8.2014 (Eingang beim SG am 25.8.2014), weil diese von der Kammervorsitzenden erzwungen worden und ohne seine Zustimmung erfolgt sei. Am 23.12.2014 erhob er Verzögerungsrüge. Mit Gerichtsbescheid vom 10.7.2017 (S 19 AL 69/17) stellte das SG fest, dass die Klage zurückgenommen sei. Berufung und Nichtzulassungsbeschwerde hiergegen blieben erfolglos (Urteil des Hessischen LSG vom 16.3.2018 - L 7 AL 62/17; Beschluss des BSG vom 23.5.2018 - B 11 AL 27/18 B).
Das LSG als Entschädigungsgericht hat die bereits am 9.7.2015 erhobene Entschädigungsklage abgewiesen. Entschädigungsrechtlich lägen trotz inhaltlichem Zusammenhangs mehrere selbstständige Verfahren vor. Wegen des von 1999 bis 2009 dauernden Verfahrens über den Anspruch auf Alhi dem Grunde nach (S 19 AL 1739/99, L 7/10 AL 115/04) sei die Entschädigungsklage erst nach der am 3.6.2012 ausgelaufenen materiell-rechtlichen Ausschlussfrist für zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGG) bereits rechtskräftig abgeschlossene Verfahren erhoben worden. Hinsichtlich des nachfolgenden Verfahrens über die Höhe der Alhi (S 1/32 AL 520/10) sei die Klagefrist von sechs Monaten nach Verfahrensabschluss nicht eingehalten und auch die Verzögerungsrüge verspätet erhoben worden. Wegen der festgestellten Wirksamkeit der Klagerücknahme bilde diese den Zeitpunkt des Verfahrensabschlusses. Zugleich sei deshalb das Verfahren über die Höhe der Alhi getrennt von demjenigen über die Wirksamkeit der Klagerücknahme (S 19 AL 69/17, L 7 AL 62/17) zu betrachten. Diesbezüglich sei die Verzögerungsrüge zu früh erhoben worden, weil vier Monate nach dem Fortsetzungsantrag noch keine Besorgnis einer Verzögerung des Rechtsstreits bestanden habe. Im Übrigen liege keine Überlänge dieses Verfahrens vor (Urteil vom 18.11.2020).
Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 198 Abs 1, 3 und 5 GVG. Er verlangt nur noch eine Entschädigung in Geld wegen 53 Monaten unangemessen langer Dauer des Verfahrens zur Höhe der Alhi und des sich anschließenden Streits über die Wirksamkeit der Klagerücknahme. Verzögerungsrüge und Entschädigungsklage seien zum richtigen Zeitpunkt erhoben worden, weil diese Verfahren wegen ihrer besonderen Nähe entschädigungsrechtlich als Einheit zu betrachten seien. Anders als bei einer erfolgreichen Restitutionsklage, bei der das ursprünglich in Rechtskraft erwachsende Urteil in einem neuen Verfahren zu überprüfen sei, werde bei unwirksamer Klagerücknahme das ursprüngliche Verfahren lediglich fortgesetzt, ohne dass es zuvor rechtskräftig geworden sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Hessischen LSG vom 18.11.2020 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm wegen unangemessener Dauer der vor dem SG Frankfurt am Main unter den Aktenzeichen S 1/32 AL 520/10 und S 19 AL 69/17 und vor dem Hessischen LSG unter dem Aktenzeichen L 7 AL 62/17 geführten Verfahren eine Entschädigung in Höhe von 5300 Euro zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit der Entschädigungsklage zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil. Zudem hält er die Revision für nicht hinreichend begründet und die geltend gemachte Entschädigungssumme für nicht schlüssig errechnet.
II
Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).
A. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Urteil des LSG als Entschädigungsgericht, mit dem die Entschädigungsklage abgewiesen worden ist, wobei der Kläger im Revisionsverfahren ausschließlich einen Anspruch auf Geldentschädigung in Höhe von 5300 Euro nur noch wegen der unangemessenen Dauer der Verfahren zur Höhe der Alhi (S 1/32 AL 520/10) und zur Wirksamkeit der Klagerücknahme vor dem SG und LSG (S 19 AL 69/17, L 7 AL 62/17) geltend macht (vgl zur Zulässigkeit der Begrenzung des Entschädigungsbegehrens auf die Tatsacheninstanzen eines Ausgangsverfahrens BSG Urteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 1/13 R - BSGE 118, 91 = SozR 4-1720 § 198 Nr 7, RdNr 21). Auch die Begrenzung auf einen Entschädigungsanspruch in Geld unter Verzicht auf die Geltendmachung des sogenannten "kleinen Entschädigungsanspruchs" in Form der isolierten Feststellung unangemessener Verfahrensdauer nach § 198 Abs 4 GVG (s hierzu BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 57) ist im Rahmen der Dispositionsbefugnis des Klägers (§ 123 SGG) zulässig (vgl BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 5 RdNr 11; Hessisches LSG Urteil vom 8.7.2020 - L 6 SF 6/19 EK AS - juris RdNr 25; Röhl in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 198 GVG RdNr 158, Stand 2.3.2023).
B. Die Revision des Klägers ist zulässig. Insbesondere genügt die Begründung den Anforderungen aus § 164 Abs 2 Satz 3 SGG, wonach ua die verletzte Rechtsnorm zu bezeichnen ist. Der Kläger macht ein vom Entschädigungsgericht abweichendes Verständnis des Begriffs des Gerichtsverfahrens geltend. Zwar benennt er nicht § 198 Abs 6 Nr 1 GVG, der das Gerichtsverfahren definiert. Der Begriff "Gerichtsverfahren" ist aber vor allem Tatbestandsmerkmal des in § 198 Abs 1 Satz 1 GVG normierten Entschädigungsanspruchs. Schon deshalb ist die Benennung von § 198 Abs 1 GVG als übergeordneter maßgeblicher Anspruchsnorm ausreichend (vgl zu den Anforderungen an die Bezeichnung der verletzten Rechtsnorm BSG Urteil vom 29.8.2012 - B 12 KR 25/10 R - BSGE 111, 257 = SozR 4-2400 § 7 Nr 17, RdNr 12; BSG Urteil vom 19.8.2003 - B 2 U 38/02 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 1 - juris RdNr 19).
C. Die Revision des Klägers ist aber unbegründet. Zu Recht hat das LSG einen Entschädigungsanspruch des Klägers sowohl wegen der Dauer des Verfahrens über die Höhe der Alhi als auch wegen der Dauer des Verfahrens über die Wirksamkeit der Klagerücknahme verneint.
Der mit der Entschädigungsklage vom Kläger geltend gemachte Anspruch ist an §§ 198 ff GVG zu messen (dazu unter 1.). Die Entschädigungsklage ist teilweise bereits unzulässig (dazu unter 2.) und im Übrigen unbegründet (dazu unter 3.).
1. Das Begehren des Klägers ist sowohl in prozessualer als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht an § 202 Satz 2 SGG iVm §§ 198 ff GVG zu messen, weil das ÜGG vom 24.11.2011 (BGBl I 2302) anwendbar ist. Art 23 Satz 1 Alt 1 ÜGG eröffnet Entschädigungsansprüche auch für solche Verfahren, die - wie das mit der Klageerhebung im November 2010 eingeleitete Verfahren zur Höhe der Alhi - bei Inkrafttreten des ÜGG am 3.12.2011 (vgl Art 24 ÜGG) bereits anhängig waren (vgl BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R - BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20, RdNr 11; BSG Urteil vom 27.3.2020 - B 10 ÜG 4/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 19 RdNr 12).
2. Die ausschließlich auf eine Geldentschädigung gerichtete Klage ist unzulässig soweit sie sich auf das Verfahren über die Höhe der Alhi bezieht (S 1/32 AL 520/10).
Die Entschädigungsklage ist als allgemeine Leistungsklage statthaft (§ 54 Abs 5 SGG; stRspr; zB BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R - BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20, RdNr 14). Die Wartefrist des § 198 Abs 5 Satz 1 GVG, wonach eine Entschädigungsklage frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden kann, ist gewahrt. Der Kläger hat am 23.12.2014 eine überlange Verfahrensdauer gerügt und am 9.7.2015 - nach Ablauf von mehr als sechs Monaten - Entschädigungsklage erhoben. Jedoch wurde in Bezug auf das Verfahren zur Höhe der Alhi die Klagefrist des § 198 Abs 5 Satz 2 GVG nicht eingehalten.
Gemäß § 198 Abs 5 Satz 2 GVG muss die Klage spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden (zur Einordnung als materiell-rechtliche Ausschlussfrist s BSG Urteil vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 1/17 R - SozR 4-1710 Art 23 Nr 5 RdNr 22; BSG Urteil vom 10.7.2014 - B 10 ÜG 8/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 2 RdNr 12). Fristbeginn für eine Entschädigungsklage wegen dieses Verfahrens war dessen Erledigung durch Klagerücknahme in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 11.8.2014 (dazu unter a). Die Entschädigungsklage wurde diesbezüglich zu spät erhoben (dazu unter b).
a) Das Verfahren über die Höhe der Alhi und das Verfahren über die Wirksamkeit der Klagerücknahme sind als jeweils eigenständige Gerichtsverfahren im Sinne des Entschädigungsrechts getrennt voneinander zu betrachten. Das Verfahren über die Höhe der Alhi endete mit der Klagerücknahme am 11.8.2014. Eine einheitliche Betrachtung beider Verfahren mit der Folge, dass diese erst mit Rechtskraft der Entscheidung über die Wirksamkeit der Klagerücknahme beendet gewesen wären und die Entschädigungsklage am 9.7.2015 auch hinsichtlich des Verfahrens über die Höhe der Alhi rechtzeitig erhoben worden wäre, kommt vorliegend nicht in Betracht.
Nach § 198 Abs 6 Nr 1 Teilsatz 1 GVG ist ein Gerichtsverfahren jedes Verfahren von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss einschließlich eines Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und zur Bewilligung von Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe. Über den Wortlaut hinaus ist Endpunkt eines Gerichtsverfahrens im Sinne dieser Definition auch die Erledigung auf andere Weise, zB nach § 102 Abs 1 Satz 2 SGG durch Klagerücknahme (BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R - BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20, RdNr 16; BVerwG Urteil vom 26.2.2015 - 5 C 5.14 D - juris RdNr 24; Röhl in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 198 GVG RdNr 27, Stand 2.3.2023; Ott in Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 2013, § 198 GVG RdNr 54). Dies folgt insbesondere aus der Systematik des § 198 GVG. Denn in § 198 Abs 5 Satz 2 GVG wird eine "andere(n) Erledigung des Verfahrens" gleichermaßen für den Fristbeginn herangezogen wie der Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung. Dies umfasst nach den Gesetzesmaterialien (Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum ÜGG, BT-Drucks 17/3802 S 22 zu Abs 5 Satz 2) ausdrücklich auch die Erledigung des Verfahrens durch Klagerücknahme.
Die Überprüfung der Wirksamkeit der Klagerücknahme führt nicht dazu, dass das von der Klagerücknahme betroffene Verfahren entschädigungsrechtlich unbeendet und insgesamt von einem einheitlichen Verfahren auszugehen ist, wenn - wie vorliegend - die gerichtliche Überprüfung ergeben hat, dass die Klagerücknahme wirksam war. Vielmehr sind in diesem Fall beide Verfahren eigenständige Gerichtsverfahren iS des § 198 Abs 6 Nr 1 GVG.
Macht ein Kläger geltend, dass die erklärte Klagerücknahme unwirksam sei, muss das Gericht das Verfahren entweder in der Sache fortsetzen oder durch Urteil oder Gerichtsbescheid feststellen, dass das Verfahren erledigt ist (BSG Urteil vom 19.3.2020 - B 4 AS 4/20 R - SozR 4-1500 § 144 Nr 10 RdNr 18; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 28.10.2021 - L 6 AS 413/20 - juris RdNr 18; Haupt/Wehrhahn in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl 2020, § 102 RdNr 7; vgl auch BVerfG [Kammer] Beschluss vom 13.7.1998 - 1 BvR 666/98 - juris RdNr 8; BFH Beschluss vom 13.1.2010 - IX B 109/09 - juris RdNr 3). Zu entscheiden ist demnach zunächst über die Frage, ob die Klagerücknahme wirksam war. Nur wenn die verfahrensbeendende Wirkung der Klagerücknahme (inzident) verneint wird, wird der nur scheinbar beendet gewesene Rechtsstreit mit dem Ziel einer Sachentscheidung über den Klageantrag fortgesetzt (vgl BGH Urteil vom 15.1.1985 - X ZR 16/83 - juris RdNr 12; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 102 RdNr 12). Wenn Ergebnis der Überprüfung die wirksame Verfahrensbeendigung ist, wird mit Urteil oder Gerichtsbescheid nicht über den ursprünglichen Klageantrag, sondern ausschließlich über die Frage entschieden, ob das Gerichtsverfahren durch die Erklärung der Klagerücknahme wirksam beendet worden ist (vgl BGH Urteil vom 15.1.1985 - X ZR 16/83 - juris RdNr 12). Allein die Entscheidung, dass die Klagerücknahme wirksam war, erwächst sodann in Rechtskraft (§ 141 Abs 1 SGG).
Im Kontext des § 198 Abs 6 Nr 1 GVG hat die Feststellung einer wirksamen Verfahrensbeendigung zur Folge, dass es sich bei dem Streit über die Wirksamkeit der Klagerücknahme entschädigungsrechtlich um ein eigenständiges Gerichtsverfahren handelt (vgl für die Nichtigkeits- bzw Restitutionsklage BSG Beschluss vom 27.6.2013 - B 10 ÜG 9/13 B - SozR 4-1710 Art 23 Nr 1 RdNr 23, 26; BVerwG Urteil vom 14.11.2016 - 5 C 10.15 D - BVerwGE 156, 229 - juris RdNr 29). Denn es wäre widersprüchlich, einerseits die wirksame Beendigung des Verfahrens durch Klagerücknahme rechtsverbindlich festzustellen und andererseits den hierfür festgestellten Zeitpunkt bei der Beurteilung einer möglicherweise unangemessenen Verfahrensdauer außer Acht zu lassen.
Dem steht nicht entgegen, dass die Überprüfung der Wirksamkeit der Klagerücknahme durch das Gericht selbst vorgenommen wird und kein Suspensiv- und Devolutiveffekt eintritt. Vielmehr kommt es hierauf für die Frage der Eigenständigkeit des sogenannten Rücknahme- oder Erledigungsstreits nicht an. Bei einer Verfahrensbeendigung durch Klagerücknahme fehlt es schon an einer der Rechtskraft fähigen Entscheidung "in der Sache", die in einer höheren Instanz überprüft und deren Wirksamkeit dadurch aufgeschoben werden könnte. Umgekehrt führt etwa die Einlegung eines Rechtmittels mit Suspensiv- und Devolutiveffekt nicht dazu, dass Ausgangs-, Berufungs- und Revisionsverfahren als getrennte Gerichtsverfahren iS des § 198 Abs 6 Nr 1 GVG zu behandeln wären. Dagegen knüpft eine differenzierte Betrachtung nach dem Ergebnis des Rücknahme- oder Erledigungsstreits unmittelbar an das Ende des Streits "in der Sache" im (vermeintlich) beendeten Verfahren an.
Dass sowohl der Beginn der Frist für die Erhebung der Entschädigungsklage als auch die Relevanz einer vor Abschluss des Verfahrens erhobenen Verzögerungsrüge damit vom Ausgang der Prüfung der Wirksamkeit der Klagerücknahme abhängt, ist als Konsequenz aus der Anknüpfung des Gesetzes an den Zeitpunkt der Verfahrensbeendigung hinzunehmen. Bereits während des Rücknahme- oder Erledigungsstreits besteht die Möglichkeit, die Entschädigungsklage zur Einhaltung der Sechs-Monats-Frist des § 198 Abs 5 Satz 2 GVG, für deren Versäumung keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht kommt (BSG Urteil vom 10.7.2014 - B 10 ÜG 8/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 2 RdNr 12), zu erheben. Erweist sich das Ausgangsverfahren als unbeendet, ist es unschädlich, dass die Entschädigungsklage vor Abschluss des Verfahrens erhoben wurde (vgl BSG Urteil vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 1/16 R - BSGE 124, 136 = SozR 4-1720 § 198 Nr 16, RdNr 25; Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum ÜGG, BT-Drucks 17/3802 S 22 zu Abs 5 Satz 1). Solange die Entscheidung über die Wirksamkeit der Klagerücknahme noch nicht getroffen ist, kann das Entschädigungsklageverfahren vom Entschädigungsgericht ausgesetzt werden (vgl § 201 Abs 3 Satz 1 GVG). Schließlich kann ein Kläger wegen unangemessener Dauer des Verfahrens über die Wirksamkeit der Klagerücknahme einen eigenen Entschädigungsanspruch geltend machen.
b) Die Erhebung der Entschädigungsklage am 9.7.2015 ist hinsichtlich des Verfahrens über die Höhe der Alhi verfristet.
Nach § 198 Abs 5 Satz 2 GVG muss die Entschädigungsklage spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden. Anknüpfungszeitpunkt für den Beginn der Klagefrist ist die Erledigung des Verfahrens über die Höhe der Alhi durch die Klagerücknahme am 11.8.2014. Denn das Verfahren über die Wirksamkeit der in der mündlichen Verhandlung des SG an diesem Tag erklärten Klagerücknahme führte zu dem Ergebnis, dass diese Klage wirksam zurückgenommen worden und damit Erledigung eingetreten ist (§ 102 Abs 1 Satz 2 SGG). Die Klageerhebung erfolgte erst mehr als zehn Monate nach Beendigung dieses Verfahrens und damit außerhalb der Frist des § 198 Abs 5 Satz 2 GVG.
3. Die ausschließlich auf eine Entschädigung in Geld gerichtete Klage ist bezogen auf das Verfahren über die Wirksamkeit der Klagerücknahme (S 19 AL 69/17, L 7 AL 62/17) zwar zulässig, jedoch unbegründet.
Der Kläger durfte sein Begehren trotz getrennter Betrachtung der Verfahren über die Höhe der Alhi und die Wirksamkeit der Klagerücknahme im Wege der objektiven Klagehäufung nach § 56 SGG mit einer Klage geltend machen (vgl BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 15). Die Erhebung der Entschädigungsklage vor Abschluss des Verfahrens über die Wirksamkeit der Klagerücknahme war - wie oben unter 2.a) bereits aufgezeigt - zulässig, und die Wartefrist des § 198 Abs 5 Satz 1 GVG war - wie oben unter 2. auch schon ausgeführt - gewahrt.
Unbegründet ist die auf das Verfahren über die Wirksamkeit der Klagerücknahme bezogene Entschädigungsklage, weil die Verzögerungsrüge erhoben worden ist, bevor iS des § 198 Abs 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG Anlass zur Besorgnis bestand, das Verfahren werde nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen. Dies beschreibt den frühesten Zeitpunkt, zu dem eine Verzögerungsrüge (wirksam) erhoben werden kann (BSG Urteil vom 27.3.2020 - B 10 ÜG 4/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 19 RdNr 44; BSG Urteil vom 5.5.2015 - B 10 ÜG 8/14 R - SozR 4-1710 Art 23 Nr 4 RdNr 24). Damit soll der Gefahr entgegengewirkt werden, dass Verzögerungsrügen formal schon im Anfangsstadium eines Prozesses höchst vorsorglich eingelegt werden (Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum ÜGG, BT-Drucks 17/3802 S 20 zu Abs 3 Satz 2). Wer eine Verzögerungsrüge bei einem Gericht erheben will, muss daher zunächst in jedem dort anhängigen Verfahren selbst prüfen, ob der konkrete Verfahrensstand diese Besorgnis rechtfertigt, er also objektive Anhaltspunkte dafür hat, dass das Verfahren als solches keinen angemessenen zügigen Fortgang nimmt (BSG Urteil vom 27.3.2020 - B 10 ÜG 4/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 19 RdNr 44; BGH Urteil vom 26.11.2020 - III ZR 61/20 - BGHZ 227, 377 - juris RdNr 21, jeweils mwN; BT-Drucks 17/3802 S 20 zu Abs 3 Satz 2). Maßgeblich ist die konkrete Möglichkeit einer Verzögerung aus der ex-ante-Perspektive eines verständigen Rügeführers (BVerwG Urteil vom 12.7.2018 - 2 WA 1.17 D - juris RdNr 22; Röhl in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 198 GVG RdNr 107, Stand 2.3.2023). Eine zu früh im Ausgangsverfahren erhobene Verzögerungsrüge soll keine entschädigungsrechtlichen Folgewirkungen entfalten und "ins Leere" gehen (BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R - BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20, RdNr 32; BFH Urteil vom 26.10.2016 - X K 2/15 - BFHE 255, 407 - juris RdNr 46; Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl 2021, § 198 RdNr 19; BT-Drucks 17/3802 S 20 zu Abs 3 Satz 2). In diesem Fall kann allenfalls eine isolierte Feststellung unangemessener Verfahrensdauer nach § 198 Abs 4 Satz 3 Halbsatz 2 GVG in Betracht kommen (BT-Drucks 17/3802 S 20 f zu Abs 3 Satz 2), worauf der Kläger jedoch wirksam verzichtet hat (s oben unter A).
Der Kläger hat die Verzögerungsrüge am 23.12.2014 erhoben, also bereits etwa vier Monate nachdem er das Verfahren über die Wirksamkeit der Klagerücknahme am 25.8.2014 eingeleitet hat. Zu diesem Zeitpunkt bestanden aber noch keine objektiven Anhaltspunkte für die Besorgnis, das Verfahren werde nicht in angemessener Zeit abgeschlossen. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist den Ausgangsgerichten eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von bis zu zwölf Monaten je Instanz zuzubilligen, die für sich genommen noch nicht zu einer unangemessenen Verfahrensdauer führt und nicht durch konkrete Verfahrensförderungsschritte begründet und gerechtfertigt werden muss (BSG Urteil vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 2/20 R - BSGE 134, 18 = SozR 4-1720 § 198 Nr 22 [vorgesehen] - juris RdNr 33 mwN). Besondere Umstände des Einzelfalls, vor allem mit Blick auf die Kriterien des § 198 Abs 1 Satz 2 GVG können es gebieten, von der Regel einer zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit abzuweichen und ausnahmsweise einen kürzeren Zeitraum anzusetzen (BSG Urteil vom 24.3.2022, aaO - juris RdNr 38; BSG Urteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 1/13 R - BSGE 118, 91 = SozR 4-1720 § 198 Nr 7, RdNr 32). Das Entschädigungsgericht ist für das Verfahren über die Wirksamkeit der Klagerücknahme wegen der geringen Schwierigkeit und der Dauer der vorangegangenen Verfahren jedenfalls von einer Vorbereitungs- und Bedenkzeit von neun Monaten ausgegangen. Selbst unter Annahme einer derart verkürzten Vorbereitungs- und Bedenkzeit waren im Dezember 2014 aus der maßgeblichen ex-ante-Perspektive eines verständigen Rügeführers noch keine objektiven Anhaltspunkte für die Besorgnis erkennbar, dass das vier Monate zuvor durch den Kläger eingeleitete Verfahren vom SG nicht innerhalb der noch zur Verfügung stehenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von fünf Monaten zuzüglich Monaten aktiver Verfahrensförderung abgeschlossen werden wird. Ein Rückschluss aufgrund einer später tatsächlich eingetretenen Verzögerung ist unzulässig, weil das Tatbestandsmerkmal "Anlass zur Besorgnis" mit Blick auf den Zeitpunkt der Verzögerungsrüge zu beurteilen ist (BFH Urteil vom 26.10.2016 - X K 2/15 - BFHE 255, 407 - juris RdNr 48).